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Weiter so ist keine gute Idee, auch nicht in niedrigem Tempo. Bild: Christian Holl
Das Ende des Wachstums wurde schon vor Jahrzehnten angekündigt und eingefordert – bis heute ist Wachstum allerdings eine alternativlos scheinende Ideologie geblieben, die das Wirtschaftsleben, die unsere Umwelt prägt. Inzwischen wird überdeutlich, dass damit auch die Grundlagen zerstört werden, die wir zum Leben brauchen. Was bedeutet es für die Städte, wenn wir uns von der Idee befreien, dass die Wirtschaft immer weiter wachsen müsse?

Zeigt uns die Corona-Krise, wie Postwachstumsstädte aussehen können? Mitnichten. Selbstverständlich schrumpft derzeit die Wirtschaftsleistung fast aller Städte weltweit massiv.   Doch das Verständnis von Aufgaben (städtischer) Politik hat sich bislang nicht grundsätzlich verschoben, eine andere Umverteilungspraxis ist nicht in Sicht – das ist kein Degrowth! Ganz im Gegenteil: Die sich abzeichnende urbane Austeritätspolitik verschärft allem Anschein nach bestehende Krisen, beispielsweise Segregation, Umweltungerechtigkeit oder die sich ohnehin immer weiter verschärfenden soziale Ungleichheiten. Die derzeitige Situation hat also kaum etwa mit solidarischem Postwachstum zu tun. Vielmehr wird sie wahrgenommen als defizitäre Entwicklung innerhalb eines Systems, das weiterhin auf Wirtschaftswachstum und Profitmaximierung getrimmt wird.

Dennoch: Aus den immer größeren und immer deutlicher sichtbar werdenden Brüchen ergeben sich auch in dieser Krise Ansatzpunkte für Transformationen. Zumindest temporär verändern sich vielerorts Mobilitätspraktiken und -strukturen, werden Mieter*innen besser vor Räumungen geschützt, geraten prekäre Wohnbedingungen ins Zentrum der Debatte. Eine solidarischen Stadtpolitik wird damit nicht nur als notwendig eingefordert, sie erweist sich als eine prinzipielle und reale Möglichkeit: Die Umkehrung des wachstumsorientierten Stadtmodells hin zu einer Ausrichtung an Gemeinwohl, Klimagerechtigkeit und Resilienz. Perspektiven einer solchen grundlegenden sozial-ökologischen Transformation führen Frank Eckardt und ich mit dem Begriff Postwachstumsstadt zusammen.
Das Buch Postwachstumsstadt ist im oekom-Verlag erschienen und kann kostenlos heruntergeladen werden >>>

 

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Konzepte und Strategien der Postwachstumsstadt. Das Plakat ist hier auch als besser lesbares pdf verfügbar. (Bild: www.postwachstumsstadt.de)

Die Kritik an neoliberaler, unternehmerischer Stadtpolitik ist nicht neu. Ebenso gut erforscht sind die Alternativen. Doch bislang fehlt es ihnen an Durchschlagskraft. Mit dem Begriff „Postwachstumsstadt“ werden deswegen konzeptionelle und pragmatische Aspekte aus verschiedenen Bereichen der Stadtpolitik zusammengeführt, um bestehende Pfade zu verknüpfen und neue aufzeigen zu können. Wichtig sind hierbei nicht nur die Debatten um städtische Wachstumskrisen, transformative Planung, soziale Bewegungen und Konflikte um Gestaltungsmacht, sondern auch die Frage nach der Rolle realer Stadtutopien für die kollektive Vorstellungskraft. Wie lassen sich notwendige städtische Umsteuerungen gerade in Momenten des Bruchs durch eine sozial-ökologische Orientierung vor Ort verwirklichen? Welche Rollen spielen dabei verfestigte Machtstrukturen und Herrschaftsverhältnisse?

Ich vertrete in diesem Beitrag die These, dass man sich umfassend mit städtischen Transformationen auseinandersetzen und sie theoretisch fassen muss, um diese Fragen beantworten zu können. Dieser kurze Beitrag wird daher ausgewählte Perspektiven der Transformationsforschung auf städtische Räume und Gesellschaften beziehen und diese vor dem Hintergrund der derzeitigen Krise beleuchten. Veranschaulicht wird dies mit einem Schwerpunkt auf Wohnungspolitik.


Nischen als reale Utopien


Selbstverständlich ist eine Theorie nicht die praktischste Sache der Welt (vgl. Brie/Klein 2004). Dennoch ist praktisches Handeln, praktische Politik darauf angewiesen, strategische Leitplanken wahrzunehmen und zu vermitteln, um mittel- bis langfristig Erfolge zu erzielen.

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Plurale Assoziationen zum Thema „Postwachstumsstadt“. Grafik: Anton Brokow-Loga

Auf der Suche nach einer Theorie gesellschaftlicher Transformation kommt man kaum um die Arbeit von Erik Olin Wright herum. (Dies zeigte auch das Programm der diesjährigen Degrowth-Konferenz eindrücklich). Der 2019 verstorbene US-amerikanische Soziologe unterschied zwischen drei verschiedenen gesellschaftlichen Transformationsstrategien, die jeweils unterschiedliche Logiken aufweisen: Zunächst eine interstitielle Strategie, die an den Zwischenräumen, Rissen und Nischen kapitalistischer Gesellschaftsordnungen ansetzt. In diesen nischenhaften Räumen können alternative Formen des Zusammenlebens entworfen und gelebt werden – unschwer zu erraten, dass diese Strategie bislang häufig von Anarchist*innen vertreten wurde.

„Interstitielle Transformationen streben danach, neue Formen sozialer Ermächtigung in den Nischen und Grenzbereichen der kapitalistischen Gesellschaften aufzubauen, oft dort, wo sie keine unmittelbare Bedrohung für die herrschenden Klassen und Eliten darzustellen scheinen.“ (Wright 2015, S. 100–101) Die zentrale Idee dabei ist, sich zu vergegenwärtigen, dass alternative Arbeits-, Wohn- oder Lebensweisen möglich und schon unter den gegebenen Bedingungen machbar sind. Diese realen Utopien in der Nachbarschaft, im eigenen Quartier zeigen: Eine andere Stadt ist möglich.

Auf städtischer Ebene sind es vor allem alternative Haus- und Wohnprojekte, die in den Rissen des wachstumsfixierten Modells städtischer Politik langfristige Alternativen aufbauen. Mit gemeinschaftlichem Wohnraum können Immobilien dem kapitalistischen Wohnungsmarkt langfristig entzogen und städtische Wohnungspolitik jenseits (lokal)staatlicher oder marktförmiger Logik organisiert werden. In der Phase des Corona-bedingten Lockdowns bewiesen einige Haus- und Wohnprojekte besondere Resilienz beispielsweise dadurch, dass sie Care-Arbeiten auf alle Hausbewohner*innen aufgeteilt haben. In dieser Zeit konnten aber auch jenseits der Wände gemeinschaftlich organisierter Hausprojekte neue Umgangsformen im Miteinander festgestellt werden: Solidarische Nachbarschaftsnetzwerke zeugten davon, dass die Sorge um- und füreinander auch in kapitalistisch organisierten Stadtgesellschaften existiert und nur zum Vorschein gebracht werden muss.

Die Krise als Zeit für neue Kompromisse

Von diesen Transformationen in den Zwischenräumen zu unterscheiden ist die symbiotische Strategie. Bei ihr geht Wright davon aus, dass mit Reformen und Anpassungen institutioneller Strukturen das Leben der Menschen im Kapitalismus verbessert werden kann. Für diese Strategie stehen im historischen Rückblick beispielsweise klassische sozialdemokratische Positionen.

Die symbiotische Transformation bezieht Strategien ein, die auch als »nicht-reformistische Reformen« bezeichnet werden: „Reformen, die zugleich das Leben innerhalb des existierenden Systems verbessern und das Potenzial für zukünftige Fortschritte demokratischer Macht ausbauen“ (Wright 2015, S. 101). Es geht dabei um die demokratische und institutionelle Ermächtigung des Staates und der Zivilgesellschaft ebenso wie um die Lösung von Konflikten. Zentrales Ziel ist dabei, Ressourcen so über den (Lokal-)Staat zugänglich zu machen, dass Zivilgesellschaft wirtschaftliche Prozesse kontrollieren kann. Diese Form des zivilen Aktivismus fußt maßgeblich auf Verhandlung, Kooperation und der Vermittlung von Kompromissen.

Nach diesem Prinzip agieren verschiedene Bewegungen und Initiativen. Auf kommunalen Plattformen oder in städtischen Beteiligungsverfahren wird beispielsweise die Absicherung von Freiräumen eingefordert. Teils mit Erfolg: So werden in vielen Städten in Deutschland stadteigene Grundstücke nicht mehr verkauft, sondern in Erbpacht vergeben; die Grundstücksvergabe findet auf Grundlage des besten Konzepts, nicht des höchsten Preises statt; Koordinations- und Beratungsstellen werden, wie in Leipzig und Frankfurt am Main, durch die Stadtverwaltungen kofinanziert. Diese Veränderungen gehen in vielen Städten – genau wie Vorschläge zum besseren Schutz der Mieter*innen in der Corona-Krise – auf Impulse sozialer Bewegungen zurück.

Mit Brüchen die eigenen Handlungsspielräume erweitern


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Die Proteste der Klimabewegung zielen nicht auf kleinteilige Anpassungen, sondern auf einen Systemwechsel (Bild: Michael_Luenen, pixabay)

Zuletzt nennt Wright die rupturale Strategie, die mit bestehenden staatlichen Institutionen radikal bricht und durch gesellschaftliche Ermächtigung nach einem Bruch neue Institutionen errichtet – eine Perspektive, wie sie der Marxismus vertreten hat. Neue emanzipatorische Institutionen werden aus der Perspektive rupturaler Strategien durch einen scharfen Bruch mit den existierenden sozialen Strukturen und Institutionen erzeugt. Meist schließt diese als „revolutionär“ gerahmte Transformationsstrategie die Übernahme staatlicher Gewalt ein, um den raschen Umbau staatlicher wie wirtschaftlicher Strukturen zu forcieren.

Diese Strategie verfolgende Akteure und Gruppen stehen in ihren Handlungen im offenen, direkten Konflikt mit den dominanten Institutionen der Stadtgesellschaft (wie der Stadtverwaltung oder großen Unternehmen) und stellen in politischen Aktionen das gesellschaftliche System in Frage. Der Moment des Bruchs sollte aber nicht mit einem „Ende“ jeglicher Form kapitalistischer Dominanz gleichgesetzt werden, sondern eher darauf abzielen, politischem Druck zu erzeugen und so größere Spielräume zu schaffen, damit die beiden anderen Transformationsstratigen, die der Symbiose und des Freiraums verfolgt werden können. Genau darin liegt letztlich das spezifische Potenzial dieser Strategie.

So zeigt sich, dass gerade durch die „mittleren Brüche“, durch Proteste, Solidaritätsbekundungen, Blockaden und andere politische Aktionen Diskurslinien verschoben werden. Durch die öffentliche Artikulation der organisierten wohnungspolitischen Bewegung konnte in der Phase des durch die Corona-Maßnahmen induzierten Bruchmoments die prekäre Situation bestimmter Gruppen thematisiert werden, beispielsweise von Wohnsitzlosen, Illegalisierten oder von Zwangsräumungen Betroffenen. Auch die Privatisierung des als dringend erforderlich wahrgenommenen öffentlichen Raums konnte so zumindest an einigen Stellen als problematisch markiert werden – symbiotische und interstitielle Transformationsstrategien können und müssen in den stadtpolitischen Auseinandersetzungen der nächsten Monate genau an diesen Konflikten ansetzen.

Strategisches Handeln


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Ganzheitlich denken – das ist der Anspruch des Konzepts Postwachstumsstadt. (Grafik: Alessa Dresel)

Jede dieser Strategien weist für sich genommen bedeutende Nachteile auf – beispielsweise die Frage der Machverteilung und -organisierung nach dem Bruch in rupturalen Strategien oder die Gefahr, kapitalistische Ausbeutung unangetastet zu lassen oder sie gar als „Lückenfüller“ zu stärken im Fall der anderen beiden Strategien. Daher muss es in Anküpfung an die von Wright unterschiedenen Transformationsstrategien nicht um den einen privilegierten Pfad gehen, sondern vielmehr darum, sie zu kombinieren, verschiedene stadtpolitische Formen, Ebenen und Strategien aneinander auszurichten und aufeinander zu beziehen. In Debatten rund um stadtpolitische Prozesse oder Konflikte um das Recht auf Stadt kann diese Perspektive eines „strategischen Pluralismus“ gerade in Krisenzeiten gewinnbringend sein.
Das Projekt Postwachstumsstadt verstehen wir als einen Schritt auf der Suche nach neuen Paradigmen in der ökologischen, sozialen und kulturellen Krise der Wachstumsgesellschaft. Es soll irritieren und inspirieren, Denk- und Machanstöße geben, zu Diskussionen einladen. Diese Debatte an den Hochschulen und Planungsämtern zu führen, ist notwendig. Gleichzeitig braucht es jedoch eine öffentliche, gesamtgesellschaftliche Verständigung darüber, was das gute Leben in der Stadt für alle sein kann und sein soll. Wir müssen uns mit Strategien der Transformation auseinandersetzen, um progressive Stadtpolitik wirksam und umfassend zu gestalten.


Der Artikel beruht zu einem Teil auf dem Artikel des Autors: Eine andere Stadt ist möglich! Realutopische Transformationen zur Postwachstumsstadt. In: Anton Brokow-Loga, Frank Eckardt (Hrsg.) (2020): Postwachstumsstadt. Konturen einer solidarischen Stadtpolitik. München: oekom verlag. S. 72-88.

Zum Weiterlesen:

Brie, Michael; Klein, Dieter (2004): Die Wege – Revolution, Reform, Transformation – marxistisch inspirierte Überlegungen. Beitrag zu den Thesen der Rosa – Luxemburg – Stiftung für das Seminar „Reform oder Revolution? Gesellschaftliche Konflikte, Konzepte, Akteure, Strategien des Kampfes gegen den Neoliberalismus“. Rio de Janeiro. Online verfügbar unter https://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/Themen/Ausland/rio2004/2Brie.pdf
I.L.A. Kollektiv (2019): Das gute Leben für alle. Wege in die solidarische Lebensweise. München: oekom. Online verfügbar unter https://dasgutelebenfueralle.de/
Mayer, Margit (2011): Recht auf die Stadt-Bewegungen in historisch und räumlich vergleichender Perspektive. In: Andrej Holm und Dirk Gebhardt (Hg.): Initiativen für ein Recht auf Stadt. Theorie und Praxis städtischer Aneignungen. Hamburg: VSA-Verl., S. 53–78.
Stellmacher, Michael; Brecht, Norma (2017): Degrowth in Boomtowns oder das gute Leben in der Stadt für alle. In: Corinna Burkhart, Matthias Schmelzer und Nina Treu (Hg.): Degrowth in Bewegung(en). 32 alternative Wege zur sozial-ökologischen Transformation. München: oekom, S. 332–343. Online verfügbar unter https://www.degrowth.info/de/dib/degrowth-in-bewegungen/
Wright, Erik Olin (2015): Durch Realutopien den Kapitalismus transformieren. In: Michael Brie (Hg.): Mit Realutopien den Kapitalismus transformieren? Hamburg: VSA-Verl. (Beiträge zur kritischen Transformationsforschung, 2), S. 59–106.