In diesem aufgeheizten Wahlkampf auf die Kultur zu schauen, scheint zunächst etwas Ablenkung zu bieten. Tatsächlich finden sich in den Programmen viele wohlmeinende Formulierungen, die suggerieren könnten, es sei doch alles nicht so schlimm. Doch das Bild trügt gewaltig.
Man möchte gerne hoffen, dass am 24. Februar der Wahnsinn ein Ende hat. Der Wahnsinn voller verquerer Schuldzuweisungen und Ablenkungsmanöver, in dessen Rahmen Menschen pauschal für irgendein Merkmal diskreditiert werden, sei es als Bürgergeldempfangende oder Geflüchtete, die derart stigmatisiert für etwas verantwortlich gemacht werden, was sie nicht verschuldet haben. Während weder Fragen wie Klima, Wohnungspolitik, Gesundheitsvorsorge, Bildung oder Fachkräftemangel, noch solche nach Steuerhinterziehung thematisiert werden, von Integrationskonzepten mit Spracherwerb und Jobtraining ganz zu schweigen. Es werden Grundfesten der Demokratie von denen infrage gestellt, denen sie nicht in den Kram passen. Zuletzt wurde gemeinnützigen Vereinen von der CDU mit Entzug der Unterstützung gedroht. Da ohnehin schon immer wieder Vereine oder Bündnisse mit mehr oder weniger plausiblen Begründungen die Gemeinnützigkeit verlieren (wie attac oder der antifaschistische VVN), muss man diese Drohung auch so verstehen, dass statt den Gemeinnützigen denen der Rücken gestärkt wird, die Gemeinnützigkeit nach eigenen Einschätzungen gewähren wollen. Und das von einer Partei, die das Ehrenamt als Teil einer „Leitkultur“ versteht.
Das Leid mit der Leitkultur
Der Wahnsinn wird nach dem 23. Februar nicht abnehmen, es ist höchstens wahrscheinlich, dass er nicht im dichten Takt Höhepunkte der Aufmerksamkeit produzieren wird, wie im Moment. Der Wahnsinn wird schon deswegen nicht abnehmen, damit man sich nicht mehr über das empört, was eben noch unsagbar galt; die traurige Karriere des Remigrations-Begriffs ist dafür ein erschütterndes Beispiel. Nicht nur der Begriff ist enttabuisiert, sondern auch die damit verbundenen, menschenverachtenden Inhalte. Daran haben vor allem die Unionsparteien erheblichen Anteil. Dass sich CDU/CSU und AfD in Fragen geschmackloser Instrumentalisierung des Migrationsthemas einig sind, hätte man schon vor der Abstimmung über den 5-Punkte-Plan von CDU/CSU wissen können. Es ist aber nicht das einzige Beispiel für einen beängstigenden Gleichklang. Schon 2018 wollten beispielsweise erst AFD, dann CDU/CSU der Deutschen Umwelthilfe die Gemeinnützigkeit entziehen. Das Verbandsklagerecht will die CDU nun abschaffen, auch wenn es nicht nur in der Durchsetzung klimaschutzrechtlicher Belange, „sondern auch bei der Berücksichtigung kollektiver demokratischer Rechte eine Errungenschaft“ ist. Die AfD wollte es schon 2019 einschränken. Wie sehr die CSU Positionen der AfD übernommen hat, hat die Süddeutsche kürzlich gezeigt. Und dass das alles keine Zufälle sind, veranschaulichen die Recherchen von Correctiv.
Auch kulturelle Fragen sind dabei nicht nebensächlich, sondern zentral. Mag sein, dass es CDU und CSU im Moment noch nicht wagen, einen homogenisierenden Kulturbegriff offen zu äußern, wie es die AfD macht, für die beispielsweise die Türkei „kulturell nicht zu Europa gehört“. Zu denken müsste das Parteiprogramm der Unionsparteien dennoch geben. Dort heißt es: „Die Werte unseres Landes müssen wir definieren und durchsetzen. Es braucht eine Leitkultur.“ Dass CDU/CSU „Leitkultur“ wie einen Fetisch nutzt, um einen Umgang mit den Widersprüchen einer modernen Gesellschaft zu finden, ist nicht neu. Aber die Formulierung ist eine andere als früher. Im Wahlprogramm von 2017 ging es noch um „unsere freiheitliche Leitkultur, die wir bewahren und stärken: Für die Gegenwart und für die Zukunft. Die Leitkultur ist eine ungeschriebene Voraussetzung für ein gutes Zusammenleben in Deutschland. (…) Zu unserem Land gehören alte und neue Deutsche, Menschen mit und ohne deutschen Pass, mit und ohne Migrationshintergrund.“
Es muss kaum erwähnt werden, dass von den anderen Parteien sonst nur die AfD ebenfalls von Leitkultur redet, deren Formulierung wiederum stark an die der Unionsparteien von 2017 erinnert. Bei denen hieß es damals, jedes Land sei „angewiesen auf ein einigendes Band in Form von innerem Zusammenhalt und Identität.“ Bei der AfD klingt das 2025 so: „Die deutsche Leitkultur beschreibt unseren Wertekonsens, der für unser Volk identitätsbildend ist und uns von anderen unterscheidet. Sie sorgt für den Zusammenhalt der Gesellschaft und ist Voraussetzung für das Funktionieren unseres Staates.“ Wer die „anderen“ sind, bleibt vage, nebulös erscheint zunächst auch die darauffolgende Formulierung: „Die gemeinschaftsstiftende Wirkung der deutschen Kultur ist Fundament unseres Grundgesetzes und kann nicht durch einen Verfassungspatriotismus ersetzt werden.“ Heißt aber: sich auf das Grundgesetz als den in Verfassungsrecht gegossenen Wertekonsens zu berufen, wird als unzureichend erachtet. Peter Laudenbach sah in der SZ darin „eine völkische Umdeutung des Grundgesetzes: Die Zugehörigkeit zur deutschen Volks- und Kulturgemeinschaft soll als ‚Fundament unseres Grundgesetzes‘ offenbar die unverletzliche Würde des Menschen ersetzen.“ Wer bestimmt denn die Werte, die den „Wertekonses“ bilden? Implizit ist, dass die AfD dabei ein Wörtchen mitreden will. Eben wie die Unionsparteien, die die „Werte unseres Landes erst noch meinen „definieren“ und dann „durchsetzen“ zu müssen. Wie soll da Kultur noch Brücken bauen, wie es sowohl CDU/CSU als auch AfD in ihren Programmen postulieren?
In der Zwangsjacke
Kultur wird hier in die Zwangsjacke einer Definitionshoheit gesteckt, die mit der Freiheit der Kunst nicht mehr viel zu tun hat, mag man auch Lippenbekenntnisse dazu in Wahlprogrammen aufführen. Der Angriff ist schon längst gestartet. Und wenn nun nicht „nur“ Leitkultur, sondern auch Kultur definiert und durchgesetzt werden soll? Kultur wäre dann nicht ein permanent immer wieder von neuem hervorgebrachtes Gut einer Gemeinschaft, die sich dynamisch entwickelt, sondern eines, über das eine exklusive Gruppe der Gemeinschaft entscheidet. Einen Vorgeschmack geben die Kulturkürzungen in Berlin: „Ja, das Land Berlin ist bankrott und ja, auch der Kulturbereich muss einen Anteil für die Sanierung erbringen. Doch kann man so etwas nicht per „Ordre de Mufti“ durchsetzen, ohne großen Schaden anzurichten. Man muss miteinander sprechen, Vorschläge hin und her bewegen, einschätzen, was geht und was nicht. Aber genau das findet viel zu wenig statt“, so kürzlich Olaf Zimmermann vom Deutschen Kulturrat.
„Anders als ‚Werte‘ sind Ressourcen nicht exklusiv; sie preisen sich nicht an und man ‚predigt‘ sie nicht. Man bringt sie vielmehr zur Geltung, man aktiviert sie oder lässt sie verkommen.“ Francois Jullien
Eine Kultur einer offenen und befruchtenden Aneignung neuer Einflüsse ist hier nicht mehr zu finden, Kultur, wie sie etwa François Jullien versteht. Er sieht sie als dem Universellen verpflichtet und verbindet damit den Auftrag, Kulturen hätten „sich nicht auf ihre ‚Unterschiede‘ zurückzuziehen, sich nicht in ihrem ‚Wesen‘ zu gefallen, sondern sich anderen Kulturen, Sprachen und Denkweisen auch weiterhin zuzuwenden, sich ihnen entgegenzustrecken; und dem entsprechend nicht aufzuhören, an sich zu arbeiten, sich zu verändern – mit anderen Worten: lebendig zu bleiben.“ (1) Hierin zeigt sich, warum sich Jullien gegen den abgrenzenden Begriff der „kulturellen Identität“ wehrt und lieber von Ressourcen spricht: „Anders als ‚Werte‘ sind sie (die Ressourcen) nicht exklusiv; sie preisen sich nicht an und man ‚predigt‘ sie nicht. Man bringt sie vielmehr zur Geltung, man aktiviert sie oder lässt sie verkommen.“ (2) Es ist wie eine Gegenrede zur Vorstellung, es müsse eine exklusive Leitkultur „unseres Landes“ geben. Und es hieße, dass „multikulturell“ eine Tautologie ist.
Und was sagen die anderen? Bei der FDP ist Kultur „Ausdruck gelebter Individualität“, die Linke betont, dass der Zugang zu Kultur „nicht vom Geldbeutel abhängen“ soll, die Grünen sehen sie „als Bestandteil unseres demokratischen Zusammenlebens“; man wolle „ein Kulturangebot schaffen, das so vielfältig ist wie das Land selbst und allen Menschen Zugang bietet.“ Man könnte auch sagen, dass die insgesamt knappen Aussagen zur Kultur sehr deutlich die Unterschiede im Selbstverständnis zwischen den Parteien akzentuieren. (Eine Zusammenfassung der Aussagen zu Fragen der Kulturpolitik von SPD, CDU/CSU, FDP sowie den Grünen ist auf den Seiten des Deutschen Kulturrats zu finden.)
Eine beängstigend breite Front
Ein Blick lohnt sich noch auf die Themen Baukultur und Architektur. Beide kommen (als Begriff) bei der SPD, den Linken und dem BSW nicht, bei der AfD als „heimische Architektur“ vor, bei der CDU ist Architektur Teil des Reichtums der Kultur „unseres“ Landes, bei den Grünen ist sie eine kulturelle Ausdrucksform. Die Grünen sprechen als einzige über Baukultur: „Wir stehen für eine moderne, nachhaltige Baukultur, in der alle Formen des Zusammenlebens berücksichtigt werden.“
Woran man mit der AfD ist, wird nicht nur im Parteiprogramm deutlich: „Baudenkmäler und heimische Architektur prägen Heimatgefühl und kulturelle Identität. Die Schönheit historischer Innenstädte muss bewahrt und bei Bedarf durch Rekonstruktionen wiederhergestellt werden.“ Auch der Antrag gegen das Bauhaus vom letzten Jahr hat gezeigt, welches Leitbild in Fragen der Architektur von dieser Partei verfolgt wird. Dieser von geschichtlicher Kenntnis recht unbeleckte Antrag richtete sich eigentlich nicht gegen das Bauhaus, sondern in einem Rundumschlag gegen Abziehbilder der Moderne, gegen den nicht näher beschriebenen „Bauhaus-Stil“, der gekennzeichnet sei von einer „unpersönlichen Architektur, die als kalt, abweisend und unattraktiv wahrgenommen wird.“ Es ist die Rede vom „globalen Einheitsbrei“, von „langfristig negativen gesellschaftlichen Auswirkungen“. Und hier scheint es einmal anders herum zu sein: Hier werden konservative Stereotype aufgegriffen, die seit mehreren Jahren immer wieder geäußert wurden. Hatten nicht die „Zehn Grundsätze zur Stadtbaukunst“ den „Identitätsverlust im Zeitalter der Globalisierung“ und die „Vernachlässigung des überkommenen Stadtbildes in der Stadtplanung“ beklagt, hatte nicht Christoph Mäckler im Mai 2020 in der Covid-Krise beklagt, die Gesten des Miteinander, der Solidarität mit dem Krankenhauspersonal könnten nicht in Neubauvierteln erlebt werden? (3) Wurde nicht auf der „Konferenz zur Schönheit und Lebensfähigkeit der Stadt“ 2018 allen Ernstes darüber diskutiert, ob das Wohnen in Zeilenbauten krank mache?(4) Wurden je von dieser Seite architektonische Antworten auf die Frage gegeben, wie man einer komplexeren Gesellschaft gerecht werden kann? Wie man auch denen, die in ihr vergleichbar neu sind, mit der Architektur kulturelle Angebote macht, ohne auf eine Geschichte zurückzugreifen, die nicht die ihre ist? Hatte nicht „Die Welt“ die „Kölner Erklärung zur Städtebausbildung“ mit einer Pauschalkritik an der Nachkriegsmoderne verteidigt?: In der Zwischenstadt, dem „angeblich zeitgemäßen Städtebautyp hochgejubelten Siedlungsbreis an den Stadträndern“ erlebe „das 20er-Jahre-Konstrukt der gegliederten, aufgelockerten, autogerechten, entmischten Stadt seine hässliche Spätblüte, in ihm zeugt es sich bis heute in immer anachronistischeren, immer unansehnlicheren Relikten fort.“
Wir müssen uns heute der Frage stellen, wie der Boden bereitet werden konnte für Ausschlussaggressionen, die auf die architektonischen Repräsentationen des vermeintlich Zeitlosen, Richtigen, Deutschen, Schönen rückbezogen werden.
Hier ist der Boden für eine Fundamentalkritik am Städtebau und der Architektur der Nachkriegszeit gelegt worden, der nun bereitwillig aufgegriffen und auf ein erbärmlich biederes Niveau heruntergebrochen wird. Keiner und keinem der hier Zitierten möchte ich unterstellen, mit der AfD zu sympathisieren. Das Problem ist ein anderes, Armin Nassehi hatte es das „implizit Rechte“ genannt, dem es um die „Betonung des Eigenen, die identitäre Form der Selbstbeschreibung“ (5) gehe, in dem das Bild und die Erscheinung wichtiger wird als der Prozess einer gemeinsamen Planung mit aneignungsfähigen Ergebnissen, in der es nicht darum geht, wie Architektur und Stadtplanung zu einer Gesellschaft beitragen könnte, die allen die gleichen Chancen geben will.
Wir müssen uns heute der Frage stellen, wie der Boden bereitet werden konnte für Ausschlussaggressionen, die auf die architektonischen Repräsentationen des vermeintlich Zeitlosen, Richtigen, Deutschen, Schönen rückbezogen werden. Es wäre schon etwas, wenn konservative Planerinnen und Planer, Architektinnen und Architekten sich gegen die Instrumentalisierung ihres Gedankenguts durch die AfD wehren würden. Davon ist mir allerdings nichts bekannt. Und wenn wir noch einmal nach Berlin schauen, wo genau mit dieser Denkrichtung Städtebau betrieben wird – man schaue auf den Molkenmarkt und den Umgang mit den Ergebnissen eines jahrelangen Planungsprozesses – dann ist es wahrscheinlich auch nicht zu erwarten. Ernannt wurde die die dafür verantwortliche Senatsbaudirektorien Petra Kahlfeldt übrigens vom Bausenator der SPD, als in Berlin noch ein rot-grün-roter Senat regierte. Inzwischen regiert Schwarz-Rot, Kahlfeldt blieb. Architektur und Stadtplanung, so zeigt sich, waren noch nie unpolitisch. Es ist vor der Wahl wichtig, sich das zu vergegenwärtigen. Aber vor allem auch nach dem 23. Februar.
Die Wahlprogramme der Parteien:
SPD: https://www.spd.de/fileadmin/Dokumente/Beschluesse/Programm/SPD_Programm_bf.pdf
Bündnis 90/Die Grünen: https://cms.gruene.de/uploads/assets/20250205_Regierungsprogramm_DIGITAL_DINA5.pdf
Die Linke: https://www.die-linke.de/fileadmin/user_upload/Wahlprogramm_Langfassung_Linke-BTW25_01.pdf
FDP: https://www.fdp.de/sites/default/files/2024-12/fdp-wahlprogramm_2025.pdf
BSW: https://bsw-vg.de/wp-content/themes/bsw/assets/downloads/BSW%20Wahlprogramm%202025.pdf
AFD: https://www.afd.de/wp-content/uploads/2025/02 AfD_Bundestagswahlprogramm2025_web.pdf
(1) François Jullien: Es gibt keine kulturelle Identität. Berlin 2017. S. 33 ff. (Hervorhebung durch Jullien)
(2) ebd., S. 8
(3) FAZ vom 13. Mai 2020. Dort hieß es: „In den Medien war von dem ’seltenen Moment des Miteinanders‘ die Rede, der seinen Ausdruck im gemeinsamen Singen und Händeklatschen an den geöffneten Fenstern in den Straßenräumen der Städte gefunden hat. Konnte man das in unseren Neubauvierteln erleben? Nein, denn diese locker bebauten Viertel kennen keinen gefassten Straßenraum, der zur Bühne für seine Bewohner werden könnte. Das Zuhause im Neubauviertel findet im eigenen Wohnzimmer, nicht aber im öffentlichen Straßenraum statt, da es diesen hier nicht gibt.“
Ein einziges Video – das der Bamberger Solidarität mit Italien vom März pulverisiert all diese Behauptungen. Es wurde in einem Neubauviertel aufgenommen.
(4)
(4) Armin Nassehi: Gab es 1968? Eine Spurensuche. Hamburg 2018, S. 214