Oxford Circus mit Blick in die Regent Street. (Bild: Wikimedia Commons, CC BY 3.0, Diliff)
Wenn Stadt mehr als eine Ansammlung von besonders vielen Gebäuden, wenn städtisches Leben mehr als die Ordnung von Alltagsabläufen sein soll, dann muss dem, was dieses Mehr ausmacht, in der Planung auch wirkungsvoller Raum gegeben werden. Eine auf Ästhetik fokussierte Sicht auf Stadt kann dem nicht gerecht werden.
„Städtebau.Positionen“ (4) | Die Serie versteht sich als öffnender Beitrag zum Diskurs über Stadt, als Panorama der städtischen Vielfalt und Themen, mit denen umzugehen wir herausgefordert sind.
„Wir wollen die Stadt den Menschen zurückgeben,“ sagte die Politik. „Aber“, erwiderten die Menschen, „wir sind doch schon da!“ (1)
Die Geschichte, die sich in diesen zwei kurzen Äußerungen entfaltet, ist keine Entwicklung der neueren Zeit. Es gibt sie schon lange. Mindestens allerdings seit Prinzregent Georg IV. zusammen mit dem Architekten John Nash Anfang des 19. Jahrhunderts die spätere Regent Street schwungvoll über die dicht bebaute Mitte Londons legte. Dieser Akt, der so einfach und wenig aufgeregt klingt, ist allerdings das genaue Gegenteil einer vermeintlich harmlosen Maßnahme. Denn die Regent Street stellt sich als drastische Zäsur von existierenden Stadtgefügen dar. Nicht nur das. Wie dies die Geschichtswissenschaftlerin Laurel Flinn in ihrem Text zur Sozial- und Raumpolitik der Entstehungsgeschichte dieser Straße klar artikuliert, wurde die Regent Street als aktives Blockadeinstrument konzipiert. Sie schloss die für die arbeitenden Schichten wichtigen Ost-West-Durchwegungen und erschwerte damit Handel und Warenströme. (2)
Notwendig – für wen?
Auch dort und damals — vor mehr als 200 Jahren — wurde argumentiert, dass diese Eingriffe und Einschnitte wegen der Menschen notwendig seien. So hieß es von Seiten des Architekten und des Königshauses, dass die Stadt eine Flaniermeile brauche für die (zugegebenermaßen auch existierenden) wohlhabenden Konsumentinnen und Konsumenten, die so gerne auch durch das Zentrum Londons promenieren wollten, sich aber von der Planung übergangen fühlten. Dass da bereits andere Menschen waren, viele andere Menschen, die sich an genau dieser Stelle in der Stadt ihren Lebensunterhalt verdienten und dort zum Teil auch wohnten, spielte für den Prinzregenten und seinen Architekten eine nebensächliche Rolle. Der Bau der Straße wurde durchgeboxt — was viel Geld kostete, denn über die reinen Baukosten hinaus mussten auch Entschädigungen an die Eigentümer der betroffenen Grundstücke bezahlt werden. (3) Allerdings war das für die Krone nicht viel mehr als eine kleine Unannehmlichkeit auf dem Weg zum Ziel, das auch dadurch erreicht wurde, dass — durch das Ausspielen von angeborenen Privilegien — viele Hürden zügig überwunden wurden. Denn wer aus den gut vernetzten, politisch-aristokratischen Schichten der damals entscheidungsbefugten Stadtbevölkerung hätte einer für sie günstigen Aufwertung dieses Teils der Stadt wirklich widersprechen sollen?
Zurück ins Heute — denn es gibt viel über Raum und Raumentwicklung, über Planungen von Stadt und Städten zu sagen, die (wie auch schon die Regent Street vor gut 200 Jahren) scheinbar hehre Ziele verfolgen. Auch zeitgenössische Entwicklungen führen Konzepte wie Lebendigkeit, Schönheit, Konsumglück an, die aber nur durch akute Umverteilungen von Menschen und Dingen realisiert werden können und damit, die (durchaus gewollte) Abschaffung von Stadt zur Folge haben. Warum? Weil raumbildende und raumschaffende Disziplinen aller Art immer noch viel zu häufig ihren Fokus auf ein Bild, ein Stadtbild, legen: auf Fluchten und Traufhöhen, auf Fensterformate und die Ratio zwischen Öffnungen und Wand, auf die äußere Erscheinung und eine kontextuelle Einbindung, die über formal-ästhetische Kriterien erfolgen. Und selbst wenn es heißt, dass existierende Sozial- und Gewerbestrukturen in neuen Planungen übernommen werden würden, dann ist auch das häufig nur als Bild entwickelt. Heißt konkret, dass Prozesse, Systeme, Netzwerke oder finanzielle Gesetzmäßigkeiten, die benötigt werden, um ohne eben jene akuten Umverteilungen auszukommen — wenn das denn wirklich gewollt wird — nicht mitgedacht und manchmal sogar vergessen werden.
Mir scheint es relevant, an dieser Stelle Henri Lefebvre mit ins Spiel zu bringen, der die Planungen von Paris unter Haussmann, die etwas später als die Londoner Regent Street umgesetzt wurden (allerdings aber wesentlich gewaltsamer waren), kritisch unter die Lupe genommen hat. (4) So schreibt der französische Autor über städtisches Leben und der bewussten Verdrängung (durch Planung) von dem, was er unter städtischem Leben versteht. Zentral für seinen Stadtbegriff ist das Prinzip der Konfrontation und Koexistenz: von unterschiedlichen Ideologien und politischen Auffassungen, aber auch von zahlreichen Lebensweisen und -formaten. Doch diese heterogenen Gefüge, so Lefebvre, sind den jeweiligen hegemonialen Kräften oft nicht geheuer. Und so kommt es zu städtebaulichen und architektonischen Aufräumaktionen.
Planung wird Mittel zum Zweck und die Architektinnen und Architekten zu fleißigen Gehilfinnen und Gehilfen: Mit dem Ausmerzen von Unterschiedlichkeiten wird der vormals vielschichtige und vielfältige Raum glatt — aalglatt. Homogenität wird Prinzip und hat zur Folge, dass jene hegemonialen, raumbildenden Kräfte nicht in Frage gestellt werden. Im Fall Paris, so Lefebvre, werde so das städtische Proletariat, das in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts den Machtanspruch dieser Kräfte durch demokratisierende Anliegen gefährdete — so zumindest die Wahrnehmung der Bourgeoisie — durch die Haussmann‘sche Planung aus der Stadt regelrecht vertrieben. Zurück bleibt dann immer noch Stadt — aber nur dann, wenn Stadt als Ansammlung von gebauten Objekten verstanden wird. Ob Stadt tatsächlich noch der richtige Begriff für die resultierende aufgeräumte Raumhülle ist, bleibt, wenn wir Lefebvre folgen, fraglich.
Inszenierte Gesten
Ich möchte an dieser Stelle kurz die Aussagen vom Anfang des Textes noch einmal aufgreifen. Es sind Worte, die im Rahmen einer Versammlung zum Abriss eines existierenden und der Rekonstruktion eines neuen und erweiterten Warenhauses am Hermannplatz in Berlin gefallen sind. Sie sind aber auf andere Situationen, andere Projekte übertragbar. (5) Auch hier finden wir genau die von Lefebvre umschriebene Ausgangslage wieder, die sich aus unterschiedlichen Wahrnehmungen, Ansichten und Perspektiven speist. Wir finden einerseits starke politische Kräfte, die sich wie eine Maske vor die hegemonialen Mächte, die dieses Projekt umsetzen wollen, stellen und behaupten, dass massive räumliche Veränderungen an diesem Platz notwendig seien. Eine Interessensgemeinschaft aus 27 stadtpolitischen Initiativen hat sich, wie Niloufar Tajeri schreibt, „gegen das Projektvorhaben formiert“. (6)
Die Beweggründe sind vielfältig: erwartete Miet- und andere Preissteigerungen, Verlust von Diversität im Kiez, Unklarheit in Bezug auf die konkrete Planung, das Fehlen von „echter und gerechter Beteiligung“ (7). Diese Einschätzung verstärkt sich durch die zahlreichen Presseberichte und Zeitungsartikel. Aber auch die bisher eher sparsamen Äußerungen des beauftragten Architekturbüros David Chipperfield Architects, Berlin, lassen durchklingen, dass die Gemengelage komplex ist. Vom vorläufigen Niederlegen der Arbeit wird gesprochen, um dem „Dialog mit dem Bezirk und der Zivilgesellschaft sowie der Abwägung unterschiedlicher Interessen und Bedürfnisse größere Spielräume zu eröffnen.“ (8) Trotzdem stehen die Bilder als Illustrationen der Vorstellungen des Investors im Raum und sprechen davon, dass das Gebäude mitsamt Platz fundamental umorganisiert oder umgeformt werden sollen.
Nun ist Veränderung oder Transformation sicher per se kein schlechter Anspruch. Denken wir etwa an die klimapolitischen Diskurse, die eindeutig davon sprechen, dass andere Praxen, Gewohnheiten und Verhaltensweisen notwendig sind, um globale Klimaziele zu erreichen. Ohne teils einschneidende Veränderungen wird dies nicht geleistet werden können. Doch am Hermannplatz in Berlin ist die Sachlage eine andere. Denn selbst wenn die Deutungshoheit über das richtige Bild von Stadt sicher nie so harmlos ist, wie oft behauptet oder vorgetäuscht wird, so machen doch viele Äußerungen und mittlerweile auch Aktionen von Seiten des Investors — der Signa Beteiligungs- und Industrieholding GmbH, Innsbruck; René Benko — stutzig. Es könnte durchaus argumentiert werden, dass mit diesem Projekt der „Boden für eine ‚Stadt‘ bereitet wird, in der nur um so besser Geld verdient werden kann. (9) In diesem Kontext erscheint das Zitat vom Anfang des Textes umso zynischer. Wem, könnten wir nun fragen, soll denn was ganz genau zurückgegeben werden? Und in welchem Bezug steht diese Geste des Zurückgebens zur „inszenierten“(10) Bürgernähe und Mitbestimmung des Investors? Wird mit ihr nicht ein eng-determinierter Rahmen gesteckt, der es Mitgliedern der Stadtgesellschaft fast unmöglich macht, an Umgestaltungsprozessen mitzuwirken geschweige denn, ihnen eine andere Richtung zu geben? Würde das Areal nicht entwickelt, die versprochenen Arbeitsplätze nicht entstehen, würde dies dann etwa den Menschen in die Schuhe geschoben werden? Anders gesagt: Verhindert der Protest die Transformation und damit auch des Architekten „Virtuosenstück“(11)?
Wirkungslose Beteiligung
Für manche gewährt die aktuelle Verlangsamung der Transformationsprozesse am Hermannplatz — erreicht durch den gewaltigen und breiten zivilgesellschaftlichen Widerstand — sicher einen notwendigen Aufschub. Doch von einer Pause, die es erlauben könnte, wahre Partizipationsprozesse einzuleiten, ist keine Rede. Mit der breit angelegten Werbe- und Mitmachkampagne „Nicht Ohne Euch“ versucht der Investor nun die Menschen für das Projekt einzunehmen. So spricht Timo Herzberg, CEO SIGNA Real Estate Germany, davon, dass nun ein “von der öffentlichen Hand koordiniertes, frühzeitiges Beteiligungsverfahren nach den formellen ‘Leitlinien der Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern’ [angestrebt wird]. Nur zusammen mit der gewachsenen Struktur im Kiez”, so Herzberg, “kann ein Karstadt der Zukunft funktionieren“. (12) Die Gegenreaktion—„Nicht mit euch!“—ließ nicht lange auf sich warten und spricht davon, dass der dem Verfahren nun übergestülpten Hülle nicht viel Vertrauen entgegengebracht wird. Wie auch? Zu viele Anekdoten, Geschichten und Forschungsarbeiten über Berlin und andere Orten erzählen davon, dass Beteiligungsverfahren im Bereich Investorenurbanismus steigenden Gewerbemieten und der damit einhergehenden Verdrängung selten etwas entgegensetzen können.
Die Fragen danach, wer denn letztlich über die Gestaltung von Stadt, Raum oder Architektur entscheidet, werden immer lauter. Besonders der ausgeprägte Investoren-Urbanismus der letzten Jahrzehnte ist mit vielen seiner Passepartout-Behauptungen und den konkreten Planungen, von denen nur eng gesteckte und zahlungsfähige Gruppen der Stadtgesellschaft tatsächlich profitieren, ins Kreuzfeuer der Kritik geraten. Denn wenn nur die Ansprüche, Interessen und Seilschaften von sehr begrenzten und überschaubaren Fraktionen in der Gestaltung von Raum berücksichtigt werden, wo bleiben dann die, die kein Teil davon sind? Wird der Rest der Stadtgesellschaft dann auch weiterhin mit rechtlich verankerten und von der öffentlichen Hand durchgeführten Beteiligungsverfahren abgespeist, die den Eindruck der Mitbestimmung erwecken, aber für die Investoren nur eine kleine Unannehmlichkeit auf dem Weg darstellen?
Nachsatz
Wenn die obigen Fragen gut an sogenannten innerstädtischen Prestige-Projekten abgearbeitet werden können, muss trotzdem klar sein, dass jene nur ein kleiner Teil der weitgreifenden räumlichen Transformationsprozesse im 21. Jahrhundert sind, die schon lange nicht mehr nur die großen Städte und Ballungsgebiete betreffen. Wenn der Fokus von Stadtforschung häufig noch auf den geographischen Zentren liegt, muss dringlich das weitere Raumgeflecht in Betracht gezogen werden. (13) Warum? Weil in Zeiten von immensen und wachsenden Ungleichheiten klar wird, dass existierende — unter anderem auch politisch gewählte — Machtgefüge die langfristigen Konsequenzen von Entwicklungen nicht ausreichend umfassend im Blick haben. Gut gemeint ist demnach einfach nicht mehr gut genug. Gleiches gilt auch für die Planung von Raum, wenn sie sich nur aus vermeintlich allgemeingültigen ästhetischen Kriterien speist und wenig aus Fragen nach anderen solidarischen Prozessen, Strukturen und Systemen.