Wenig los: Nur sechs Mitarbeiter*innen hielten die Stellung im Büro Birk Heilmeyer und Frenzel. (Foto: Andreas Labes, Berlin)
Am 23. März 2020 beschloss das Kabinett zwei von Bundesgesundheitsminister Spahn vorgelegten Formulierungshilfen für Gesetzentwürfe. Die Folgen des „COVID19-Krankenhausentlastungsgesetz“ und des „Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ haben gewaltige Auswirkungen auf die Gesellschaft. Wie handhaben verschiedene Disziplinen der Architektur die Krise mit all ihren Phänomen? Der vierte Teil der Serie widmet sich dem Alltag unter Ausnahmebedingungen und dem folgenden Neo-Normal der Architekturbüros Birk Heilmeyer und Frenzel in Stuttgart, Graft in Berlin und Wirth=Architekten in Bremen.
Im Krisenmodus (1): Architektur ausstellen
Im Krisenmodus (2): Die Planung und die Stadt
Im Krisenmodus (3): Architektur lehren
Die Ferienzeit neigt sich dem Ende zu, und während in Deutschland eine krude Melange aus Impfgegnern, Rechten und Klimakatastrophenleugnern gemeinsam gegen die Pandemie-Schutzmaßnahmen auf die Straßen geht, rollt mit den Urlaubsheimkehrern aus allen Himmelsrichtungen eine zweite Welle von SARS-Covid-19-Fällen auf das Land zu. Wie aber sieht es in der Architektur aus, wie haben Büros unmittelbar auf die notwendigen Veränderungen reagiert, und wie läuft Architekturproduktion im Sommer 2020?
Jan und Benjamin Wirth sitzen im Wintergarten ihres Bremer Büros, in dem traditionell alle Besprechungen stattfinden und sich Abstandsregeln gut einhalten lassen. „Für einige Wochen waren wir alle im home office“, sagt Benjamin Wirth, und sein Bruder Jan fügt an: „Wobei das etwas übertrieben war – es ging ja nicht darum, dass das Büro komplett leer ist. Deswegen sind Benjamin und ich bald ins Büro zurückgekehrt, da wir uns ohnehin gemeinsam in eine Art WG aufs Land zurückgezogen hatten.“ Den Mitarbeitern hatten die Architekten freigestellt, wo sie arbeiten. Eigentlich, so die beiden, wollten aber alle so schnell wie möglich zurück ins Büro.
Im Stuttgarter Büro Birk Heilmeyer und Frenzel (BHundF) stellte sich das ähnlich dar. Stephan Birk berichtet: „Wir sind vor dem Shutdown 27 Mitarbeiter*innen gewesen, 21 waren im home office. Ein harter Kern von sechs Leuten wollte ins Büro kommen, da sie zuhause nicht arbeiten konnten oder wollten.“ Seit Ende Juni seien nun aber fast alle wieder im Büro. „Mit großer Sensibilität für Abstand und Hygiene,“ wie Birk bemerkt. „Es hilft sehr, dass wir mit 600 Quadratmetern Fläche und vier Metern Deckenhöhe ein Großraumbüro mit viel Platz haben und gut querlüften können.“
In der Berliner Dependance des international agierenden Büros Graft waren vor dem Shutdown gar knapp 150 Mitarbeiter*innen tätig. „Alle wurden ins home office verlegt,“ erklärt Thomas Willemeit, „noch bevor die Bundesregierung die offizielle Empfehlung dafür aussprach.“ In die Räumlichkeiten in der Heidestraße können aufgrund der Abstands- und Hygieneregeln Stand Juli wieder 70 bis 80 Prozent der Belegschaft arbeiten. Wolfram Putz sagt: „Wir halten die home office-Option vor allem für alle Kollegen mit Schul- oder Kita-Kindern weiter aufrecht.“
Ob wegen der Pandemie Mitarbeiter*innen entlassen werden, möchte ich von allen drei Büros wissen. „Nein, zum Glück nicht“, meint Lars Krückeberg von Graft, „es sind allerdings einige Mitarbeiter in Kurzarbeit.“ Auch Stephan Birk zeigt sich erleichtert: „Nein, wir mussten bis dato noch nicht einmal Kurzarbeit anmelden. Die Formulare lagen aber zwei Monate lang ausgefüllt auf meinem Tisch.“ Auch Jan und Benjamin Wirth mussten keine Mitarbeiter*innen vor die Tür setzen. „Die Gefahr“, so Benjamin Wirth, „bestand zu keinem Moment: Wir haben eine sehr konservative Rücklagenpufferpolitik“, fügt er lachend an.
Keine Entlassungen, kaum wirtschaftliche Unsicherheit
Bemerkenswert ist auch, dass „durch Corona“ in den drei Büros kurzfristig kaum wesentliche Veränderungen der Auftragslage zu erkennen sind. Stephan Birk dazu: „Wir haben sehr großes Glück mit unseren Auftraggeber*innen: Rechnungen wurden vielfach schneller bezahlt als in virenfreien Zeiten. Auch die Projekte sind weitergelaufen.“ Derzeit stellt das Büro BHundF sogar neue Mitarbeiter*innen ein. Dennoch rechnet Birk damit, dass die Krise auch die Baubranche treffen wird: „Wir werden das voraussichtlich zeitverzögert merken.“ Andererseits hofft er, dass mit Investitionen und öffentlichen Ausgaben der Bausektor gestützt wird: „Das Geld wäre mit Sicherheit gut investiert. Es gibt nach wie vor enormen Bedarf in der Sanierung sowie im Neubau von Kindergärten, Schulen, Hochschulen und Sporthallen. Mit Rathäusern, Feuerwehren, Betriebshöfen und Polizeirevieren können wir gleich weitermachen und mit Brücken sowieso.“ Lachend schiebt er nach: „Wir haben auch schon einen Vorschlag für den Titel eines Konjunkturprogramms: Wiederaufbau 2.0.“ Eine ernsthafte Prognose aber sei schwierig.
Dem schließt sich Wolfram Putz von Graft an: „Unsere Erfahrung mit der Weltwirtschaftskrise vor zwölf Jahren hat uns gelehrt, sehr vorsichtig zu sein. Die aktuelle Krise scheint weitaus schlimmer zu werden, da sie wirklich alle Bereiche des Lebens und der Wirtschaft weltweit betrifft.“ Daher versuchen sie sich bei Graft, „auf mögliche negative Konsequenzen einzustellen“, so Büropartner Thomas Willemeit.
In Bremen gehen sie einen Schritt weiter. Wenngleich in die entgegengesetzte Richtung: „Wir rechnen fest mit einer kompletten Erholung“, sagt Jan Wirth. Benjamin Wirth erklärt diese Prognose: „Wir hatten eher das Gefühl, dass vor allem private Bauherren begonnen haben, endlich einmal ihre Bauprojekte anzuschieben.“ Schmunzelnd fügt er hinzu: „Nach dem Aufräumen der Keller gewissermaßen.“ Bei Graft bemerken die Partner, dass „die Mehrzahl der Projekte routiniert weiterläuft“, so Lars Krückeberg. Er schiebt aber direkt nach: „Das ist allerdings eine Bestandsaufnahme, die jeden Monat neu erstellt werden muss.“ Zudem litten die asiatischen Projekte inzwischen darunter, dass man nicht reisen kann. Auch bei BHundF laufen die Prozesse weiter, wenn auch teilweise etwas verlangsamt. „In zwei Fällen haben potenzielle neue Projekte, nach Wettbewerbsgewinnen, nicht begonnen, was jeweils auf die ungewisse Haushaltslage der Stadt zurückzuführen ist“, erklärt Stephan Birk, der dennoch guter Dinge ist, dass auch diese Projekte nur aufgeschoben und nicht aufgehoben sind.
Neue Blicke und Schritte zurück
Verändert hat sich in den letzten Monaten dennoch viel. Auf der einen Seite sei auch bei den Auftraggeber*innen und Fachplaner*innen „die Bereitschaft, unkonventionell zu kommunizieren, immer da“ gewesen, so Stephan Birk. Auf der anderen Seite habe die Neuorganisation interner Prozesse mittels Video-Calls immens viel Zeit und Energie geraubt: „Das informelle, schnelle Gespräch an der Kaffeemaschine hat gefehlt, die kurze Abstimmung am Drucker oder auch das ‚Gehen wir nachher Mittagessen?‘“ Intern hat das Büro eine Umfrage unter den Mitarbeiter*innen gemacht, welche positiven Überraschungen aus der Zeit des Shutdowns auch künftig fortgeführt werden sollten. Als zwei exemplarische Ergebnisse der Online-Umfrage „the rona @BHundF“ führt Stephan Birk einen Auszug der beiden meistgenannten Antworten an: „Häufiger Videokonferenzen zu Jour Fixen, zumindest teilweise, um die Vielzahl an Fahrten zu minimieren“ und „die Möglichkeit, im home office zu arbeiten.“ Birk ergänzt lächelnd: „Nach vielen Stunden Videokonferenz wissen wir jetzt auch, wie es bei vielen unserer Bauherren und Fachplaner*innen zuhause aussieht.“
Thomas Willemeit von Graft betont: „Wir lieben den direkten Kontakt und das gemeinschaftliche Erfinden im Team.“ Da das im home office aber nicht möglich war, haben sie bei Graft neue Formate erfunden, um die interne Kommunikationskultur und gelernte Rituale ins Digitale zu übersetzen: „Was erstaunlich gut funktioniert und möglicherweise auch zu einer dichteren Kommunikation geführt hat. Wir überlegen, das Gelernte zu verstetigen. Digitale Kommunikation erleichtert einfach den Zugang, wenn man physisch nicht vor Ort sein kann. Und Zugänglichkeit ist der Schlüssel für erfolgreiche Kommunikation“.
Benjamin Wirth spannt den Bogen der Erkenntnis weiter: „Sehr beeindruckt hat uns, dass es tatsächlich funktioniert hat, die Krankheit mit den ergriffenen Maßnahmen relativ schnell unter Kontrolle zu bringen.“ Sein Bruder ergänzt: „Im Grunde ist es eine sehr konstruktive Aktivierung und Konstruktion der Krise, wenn nun alle möglichen Zustände in Frage gestellt werden. Bei aller Hoffnung auf diverse Verbesserungen wird man wahrscheinlich die Überbewertung des Einschnitts daran messen können, welche Veränderungen wirklich vollzogen werden.“ Mit einem „Schritt zurück“ müsse man erkennen, „dass Corona in Europa vermutlich nicht die Kraft wie die Pest hat, um eine Zeitenwende und damit den Beginn der Renaissance einzuleiten. Vielleicht sieht das in Südamerika und Indien anders aus.“ In Deutschland, so die beiden Bremer Architekten, sollte vielmehr aufgepasst werden, „dass jetzt nicht gerade erlangte Fortschritte im Städte- und Wohnungsbau – die ganzen Orte der Begegnung des Austauschs und der Vielfalt, die ökologischen und sozialen Vorteile der urbanen Dichte – in Frage gestellt werden.“
Das sei viel zu kurz gegriffen. „Vielleicht muss man sich in der Zukunft auf den einen oder anderen Shutdown einstellen“, so Jan Wirth, „wir haben aber gerade gemerkt: Es gibt Schlimmeres.“ Benjamin Wirth fügt an: „Natürlich ist es furchtbar, dass es gerade eher die Schwachen und Benachteiligten in Deutschland trifft, viel größere Tragödien spielen sich aber in den Entwicklungsländern ab.“ Für Jan und Benjamin Wirth driftet der Diskurs hier tendenziell gar ins Zynische ab. Und zwar dann, „wenn wir uns in Selbstbeobachtung wälzen und um die hiesige Wirtschaft bangen.“ Vieles in den aktuellen Debatten erscheint den beiden „von der Selbsthistorisierung verschleiert“, die oft Selbstbeweihräucherung oder Selbstmitleid sei: „Jeder hat im Moment die Möglichkeit, Teil von etwas Besonderem zu sein, das funktioniert natürlich am besten, wenn man das Besondere noch etwas frisiert, damit es dann auch wirklich etwas ganz Besonderes ist.“
Digitalisierung und verändertes Denken
Wolfram Putz von Graft sieht das pragmatischer: „Natürlich werden wir neu denken. Das war auch vor der Krise so.“ Wandel aufgrund neuer Erkenntnisse gebe es schließlich immer. „Allerdings sind nun durch Corona bestehende Missstände in der Art, wie wir zusammenleben, konsumieren und uns fortbewegen so offenkundig für jedermann geworden, dass der Wandel aufgrund breiterer Akzeptanz endlich eine echte Chance bekommt“, fügt Thomas Willemeit hinzu. „Das wäre eine der wenigen positiven Seiten dieser Pandemie“, meint Lars Krückeberg und zitiert den US-amerikanischen Autor Hunter S. Thompson: „When the going gets weird, the weird turn pro.”
Läuft seit der Corona-Krise nahezu ohne Verzögerungen weiter: Das Lern- und Anwendungszentrum (LAZ) in Karlsruhe von Birk Heilmeyer und Frenzel. (Bilder: BHundF)
Auch Stephan Birk sieht sich generell zum Nachdenken angeregt. „Über alles“, wie er sagt. „Die Coronakrise wird sicherlich das ‚Wie-wollen-wir-in-Zukunft-Wohnen-und-Arbeiten?‘ stark beeinflussen. Auch die Frage, was mit unseren Innenstädten geschieht, treibt einen um.“ Online-Shopping und geschlossene Clubs seien für keine Innenstadt gut. „Wir sagen das aus der Stuttgarter Perspektive“, schiebt er mit Blick auf die Krawallnacht vom 20. auf den 21. Juni 2020 nach. Ganz konkret erhofft er sich einen Wandel beim Umgang mit dem Thema Digitalisierung: „Ich habe immer das Gefühl gehabt, dass eine ältere Generation an Entscheidungsträgern gar nicht verstanden hat, was die eigentliche Aufgabe und Bedeutung ist. Der Ruf nach digitaler Infrastruktur und Ausstattung, nach schnellem Internet überall wurde immer abgetan als Forderung von ein paar Spinnern oder Nerds.“ Die Zeit des Shutdowns aber habe gezeigt, „dass wir ein digitales Entwicklungsland sind, das betrifft unsere Schulen, Ämter, Institutionen – auch die Architektenkammern –, so ziemlich alles in unserem Kosmos als Eltern und Architekten.“ Bei Birk Heilmeyer und Frenzel hoffen alle sehr, „dass nun alle die Defizite erkannt haben und sich etwas ändert“.
The weird turn pro
Mit Blick auf die Architektur sieht Thomas Willemeit den Prozess der Veränderung bereits im Gange: „Gute Freiflächen, privat oder gemeinschaftlich, waren auch vorher gefragt.“ Durch die Erfahrungen der letzten Monate aber seien die Qualitäten und Notwendigkeiten solcher Erholungsfbereiche jedem noch einmal bewusster geworden: „Was vorher gerne eingespart wurde, wird der Käufer morgen fordern. Genau wie das verstärkte Bewusstsein für gesundes, energieeffizientes Bauen. Die Krise wirkt wie ein Beschleuniger im Bewusstsein zu der essentiellen Frage, wie wir in Zukunft zusammenleben wollen.“
Auch für Benjamin und Jan Wirth lassen sich bestehende, gute Ansätze nun endlich umsetzen. So gibt es in Bremen einen neuen Krisenfond für die Innenstadt: „Und schnell hat sich eine Gruppe formiert, die ein Konzept ausarbeitet, mit dessen Umsetzung innerhalb der nächsten Wochen begonnen werden kann“, sagt Jan Wirth, und sein Bruder ergänzt: „So schnell hätten wir mit einer IBA keine Bewegung in ein Projekt gebracht – worin bis dahin unsere letzte Hoffnung steckte.“
So bleibt für den Moment neben der Tatsache, dass sich Hygiene- und Abstandsregeln in Planung und Bau relativ leicht umsetzen lassen, die beruhigende Bestandsaufnahme, dass die Architektur nicht von solch katastrophischen Auswirkungen erfasst ist, wie das in der Gastronomie oder der Kultur- und Club-Szene der Fall ist. Der Optimismus vieler Architekt*innen, dem Moment etwas Positives abzugewinnen oder ihn in Relation zur globalen Lage als gar nicht so niederschmetternd zu erleben, erscheint zudem ein Pol der Ruhe und Kraft für die kommende Zeit zu sein, in der die aktuelle Lage weiterhin stets von Monat zu Monat neu bewertet werden muss.