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Neue Großprojekte (III): Ortsranderweiterung

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Mit der »Dichte« städtischer Quartiere kommen viele Menschen nicht klar, und so thematisieren jüngste Debatten wieder das »Land«. Was ländlich idyllisiert wird, liegt jedoch im Argen. Statt die Ortsmitten zu revitalisieren, werden an den Ortsrändern unverändert jene Einfamilienhausgebiete ausgewiesen, die in ihrer Monofunktionalität zeit Jahrzehnten als Fehlentwicklung erkannt sind und trotzdem politisch gefördert werden. Und die in ihrer Gestaltungskakophonie nur die Egoshooter-Mentalität der Gegenwart zeigen. Es ist ein Großprojekt, hier Einhalt zu gebieten und die Lebensqualität in den bestehenden Ortsmitten zu verbessern.

Oh, wie schön ist das Land. Bis die Dörfer wuchern… (Bild: Ursula Baus)

Eine Pandemie ist unter uns. Sie hat einen Namen und lässt sich an fast allen Orten besichtigen. Opfer sind die gewachsenen Dörfer und kleinen Städte, die bei schrumpfender Bevölkerung um Einwohner buhlen. Die Gemeinderäte weisen Bauland aus, anstatt sich um ihre totgelaufenen Mitten zu kümmern.

Schon der sperrige Begriff sollte eine Warnung sein: Ortsranderweiterungsgebiet hört sich an wie eine unschöne Erkrankung. So etwas wie Bauspeicheldrüsenentzündung oder Kleinhirnbrückenwinkeltumor. Wenn es einmal einen Pschyrembel für Stadtplaner geben sollte, wäre dies ein wichtiger Eintrag über städtebauliche Krankheitssymptome.

Zerfleddert: Es baut jeder wann und wie er will. (Bild: Ursula Baus)

Zerfleddert: Es baut jeder wann und wie er will. (Bild: Ursula Baus)

Siedeln und Siedlung

Dabei ist eine geplante Vergrößerung von Dorf und Stadt ja keine schmerzhafte Fehlentwicklung. Früher kannte man dafür die Siedlung. Nicht selten waren die Initiatoren gemeinnützige, sozialpolitisch engagierte Organisationen. Die gleichartigen Häuschen mit ihren spitzen Giebeln versammelten sich an den Straßen wie marschbereite Kolonnen, als warteten sie auf eine Losung. Wenn man so eine Siedlung als seinen Wohnort angeben musste, konnte man damit kaum Eindruck schinden. Siedlung klang fast wie Flüchtlingslager. Es sei denn, es gehörte ein architekturträchtiges Präfix wie Weißenhof- oder Werkbund- dazu. Dann bezeichnete das Oikonym eine gute Adresse.

Gute Lagen, gute Aussicht am Ortsrand: Mancher verbarrikadiert sich mit ökologisch wertlosen Hecken. (Bild: Ursula Baus)

Gute Lagen, gute Aussicht am Ortsrand: Mancher verbarrikadiert sich auch dort mit ökologisch wertlosen Hecken. (Bild: Ursula Baus)

Vom Wachstumswahn

Ortsranderweiterungsgebiete folgen einer profanen Notwendigkeit. Bauland ausweisen verspricht Wachstum und Steuereinnahmen, sichert Arbeitsplätze und verjüngt das Durchschnittsalter durch zuziehende junge Familien. Allerdings profitieren nur die Gutverdienenden, die Fördergelder in beträchtlicher Höhe bekommen. Solches »Wohngeld für Besserverdienende« geht in deren Eigentum über, während das übliche Wohngeld einfach nur ein erträgliches Leben sichert. Ein von der Süddeutschen Zeitung (7.2.2022) geprüftes Beispiel: In Oberbayern kauft ein Paar ein Haus, Baujahr 1967. Fast ein Drittel der Sanierungskosten – 105.000 Euro von insgesamt 350.000 Euro – streichen die neuen Eigentümer als Fördergeld vom Staat ein, das in ihr Eigentum übergeht. Ein anderes Beispiel: Eigentümer, die ein Haus mit Blick auf den Starnberger See geerbt haben, beklagen sich über fehlende Förderung, wohlwissend, das »es schlimmere Schicksale gibt, als ein Haus mit Blick auf den Starnberger See zu erben«. Die meisten Fördergelder kassieren übrigens Immobilienfirmen und professionelle Bauträger.

Kakophonie im Neubaugebiet: War am gelben Haus ein Architekt beteiligt? (Bild: Ursula Baus)

Kakophonie im Neubaugebiet: Wo noch Bestand existiert, wird er ignoriert.  (Bild: Ursula Baus)

Bestand und Neubau

Glücklich die Gemeinden, die über ein sogenanntes städtebauliches Entwicklungspotenzial verfügen. Zum Beispiel in der Vorderpfalz entlang der Weinstraße. Die Gegend gilt seit langem als bevorzugtes Wohngebiet für die Angestellten aus der Industrie im Großraum Ludwigshafen – Mannheim und neuerdings auch des Wissenschaftsstandortes Heidelberg. Hier zählt nicht der S-Bahnanschluss, sondern die nahe Autobahnauffahrt. Gibt es. Manche der in die Jahre gekommenen Neubauviertel genießen inzwischen unter Maklern eine Prädikatsauszeichnung wie ein alter Wein. Die Hambacher Höhe bei Neustadt zählt dazu: Schloss und Waldsaum im Rücken, den unverbaubaren Blick in die Rheinebene nach vorne. Falls man hier einen Briefkasten findet, wäre das bereits ein Zeichen von Infrastruktur. Sonst gibt es nichts außer Einfamilienhäusern der gehobenen Kategorie.
Aber auch ohne landschaftliche Reize wird Bauland an den Ortsrändern gerne angenommen. Umstritten sind die neuen Wohnquartiere nur bei den Nutznießern der zuletzt bebauten Grundstücke – weil sie die Sicht in die Weinberge und auf die Pferdekoppeln verstellen.

Neue Ortstrandstraßen: barrierefrei, vollversiegelt (Bild: Ursula Baus)

Neue Ortstrandstraßen: barrierefrei, vollversiegelt, autogerecht (Bild: Ursula Baus)


In den Neubaugebieten muss zu allem Elend erst einmal die Infrastruktur, die in Ortsmitten exzellent ist, hergestellt werden – natürlich auf Kosten des Steuerzahlers. Im Stadtkern stehen derweil Dutzende Häuser, ehem
alige Winzerhöfe und Ladenlokale leer. Bisweilen lässt sich in den Ausweichrevieren eine Ordnung ahnen. Eine Straßenharfe in Freinsheim, ein Rippenraster beim Fronhof In Bad Dürkheim. Aber meistens hakeln sich Sackgassenerschließungen tumb in die Hanglagen, deshalb liegt der Eingang im Kellergeschoss. Die kurios geschnittenen Parzellen nehmen die beliebige Architektur vorweg.

Baulücke am Ortsrand: Nachbarschaften links und rechts zeigen die »kalten Schultern« mit fensterlosen Fassaden und Garagenfronten. (Bild: Ursula Baus)

Baulücke am Ortsrand: Nachbarschaften links und rechts zeigen die »kalten Schultern« mit fensterlosen Fassaden und Garagenlängsseiten. (Bild: Ursula Baus)

Ich und die Anderen

Denn das ist das Makabre an diesen städtebaulichen Aufnahmelagern für Besserverdienende. Sie zeigen eine Anhäufung von individuellen Glücksversprechen, die das Kunststück vollbringen, sich gleichzeitig uniform und individuell zu kaprizieren. Alles Einzelschicksale, Traumhäuser, an denen jahrzehntelang abbezahlt wird, oft nach neuesten KfW-Standards (Vorsicht!) mit umweltverantwortlicher Haustechnik und Bauphysik zertifiziert. Doch Geld scheint nicht zu fehlen. Zwei Autos am Carport, gerne ein SUV dabei, man muss ja beweglich bleiben, und die Kinder wollen zum Basketball und in die Gitarrenstunde gebracht werden. Aber hat man in diesen Randlagen jemals ein Haus entdeckt, um das man seine Besitzer beneidet hätte? Und sich vorstellen könnte, selbst darin zu wohnen?

Zugegeben, es ist beckmesserisch und überheblich, als arbiter elegantiae über die hier angehäuften hilflosen Gestaltungsambitionen zu spotten. Man erkennt, dass es den Bewohnern nicht gleichgültig ist, wie sich ihre Sesshaftigkeit ablesen lässt. Sicher hat man im Familienrat lange verhandelt, bis man sich für die Alu-Haustür mit massivem Eichenstoßgriff entschieden hat, den lavendelfarbigen Edelputz überm Riemchensockel, die pflegeleichten PVC-Fenster und den Splitgarten, der als geschottetes Passepartout das Eigentum säumt. Auch bei Doppelhäusern lässt sich kein Bauherr in seine Selbstverwirklichung reinreden. Wo immer es geht – Briefkasten, Außenleuchte, Hausnummer – sucht man sich vom Nachbarn zu unterscheiden. Jedes Haus erzählt eine Geschichte. Juli Zeh sollte das brandenburgische Flachland einmal für ein paar Monate verlassen und sich in die südwestdeutschen Ortsranderweiterungen einarbeiten. Hier wohnen ganz sicher nette Menschen. Es ist keine moralische Verfehlung so zu bauen, wie man es kann und mag.

Rechts im Bild: Wer in zweiter Reihe bauen muss, erlauft sich ein »Staffelgeschoss« – das Penthouse des Kleinen Mannes. (Bild: Ursula Baus)

Rechts im Bild: Wer in zweiter Reihe bauen muss, erlaubt seinem Architekten ein »Staffelgeschoss« – das Penthouse des Kleinen Mannes. (Bild: Ursula Baus)

Architektinnen, wo seid ihr denn?

Manchmal klebt noch ein Roter Punkt am halbfertigen Neubau. Es sind nicht nur anonyme Planvorlageberechtigte, die sich hier für Schlüsselfertigbauer Dachgefältel, Erkerbeulen und Garagenmäuler einfallen lassen. Auch freie Architekten wirken mit. Ob sie es gerne tun? An was sollen sie sich orientieren, außer am Geldbeutel der Bauherrschaft? Genius loci, hmm? Vor Jahrzehnten gab es bei vielen Dörfern unverwechselbare Ortseingänge. Meist hatten sich dort die wohlhabenderen Winzer ein besonders stattliches Anwesen gebaut, Klassizismus und Historismus setzten die mittelalterlichen und barocken Formen in der Dorfmitte fort. Sie ist jetzt verstellt von einem bunten Allerlei, von einem Kasperltheater für Familienaufführungen. Ortsmitten zu nutzen und dort, wo es unbedingt nötig ist, Neubaugebiete zu konzipieren, die das Gemeinschaftliche dem Individuellen überordnen – das wäre ein Großprojekt, das mit einem weitsichtigen Gesetzgeber und unabhängiger Verwaltung in Angriff zu nehmen wäre.

Die armseligen Siedlungshäuschen an der Bahnstrecke, wenn man da ein wenig investieren würde und nette Nachbarn fände, da könnte man es aushalten…

Schönes neues Zuhause am Ortsrand, mutmaßlich mit KfW 55-Fördergeldern gebaut. (Bild: Ursula Baus)

Schönes neues Zuhause am Ortsrand mit Katzentür, mutmaßlich mit KfW 55-Fördergeldern gebaut. (Bild: Ursula Baus)


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