Stilkritik (97) | Wie geht es weiter mit städtischer Verdichtung, ländlichen Räumen, Metropolregionen und anderen Siedlungsstrukturen, für die wir noch keine Bezeichnungen haben? Während Studien und Kongresse vor allem Modell-Konstrukte debattieren, werden in Deutschland Tag für Tag Flächen versiegelt und zugebaut, wie ein Blick in die Planungsrealität zeigt.
(Bild: Ursula Baus)
In vielen Diskussionen zur Siedlungsentwicklung wird so argumentiert, als gäbe es noch ein sehr großes Zeitfenster, bevor der Klimawandel eintritt. Der Fokus liegt immer noch auf Themen wie die „Europäische Stadt“ (Siebel, 2004), die „Zwischenstadt“ (Sieverts et al, 2005) oder der „ländliche Raum“ (BMEL, 2016).1) Die dominante, suburbane Siedlungsstruktur wird dabei oft ausgeblendet. [Einen Überblick zur gegenwärtigen Vielfalt in den Stadtentwicklungsthemen gibt unsere aktuelle Serie, siehe Seitenspalte/ Anm. der Red.]
Es ist zwar verständlich, wenn innerstädtische Projekte die Gemüter erhitzen, aber derartige Vorhaben sind Nebenschauplätze im Vergleich zum bundesweiten Flächenverbrauch von derzeit 56 ha pro Tag oder 204 Quadratkilometer pro Jahr – was der Fläche Stuttgarts entspricht.2) Dieser Flächenverbrauch findet in den Metropolregionen statt – und zwar in den suburban strukturierten Siedlungsgebieten.
Mythos „europäische Stadt“
Nicht nur in der Bundesrepublik lebt ein Großteil der Menschen in Metropolregionen: Berlin-Brandenburg, Hamburg, Köln-Bonn, Rhein-Main, München und andere. Diese lassen sich durch das Pendlerverhalten (durchschnittliche Pendlerstrecke) sowie durch die öffentlichen Verkehrssysteme (Verkehrsverbünde: Schiene, Bus) kartieren. Die Städte stehen zwar nominell für sich, strahlen aber aufgrund ihrer Wirtschaftskraft weit über ihre Stadtgrenzen hinaus ins Umland, in die suburbanen Peripherien. Das ist alles nicht neu; auch nicht das dominante Siedlungsmuster, dass durch diesen mobilen Lebensstil erzeugt wird. Umso notwendiger ist es, dass dieses Siedlungsmuster endlich bewusst wahrgenommen wird. Denn die „europäische Stadt“ ist nur noch ein minimales Fragment in der Siedlungseinheit „Metropolregion“. Diese besteht größtenteils aus suburbanen Randentwicklungen um ältere Stadt- und Dorfkerne.
Der Anteil der „europäischen Stadt“ im Verhältnis zur Gesamtfläche der Metropolregionen liegt bei etwa 1%: der verdichtete Teil Berlins (274 Quadratkilometer) nimmt in der Metropolregion Berlin-Brandenburg (30 546 km2) 0,89% ein. In der Metropolregion München liegt der Flächenanteil der verdichteten Münchner Innenstadt bei 0,44% der Gesamtfläche der Region (113 von 25.548 Quadratkilometern). In den Metropolregionen um Hamburg, Frankfurt am Main und Köln liegen die Innenstadtflächenanteile bei 0,32%, 0,42%, respektive 1,28%. Die restlichen 99% werden durch Mobilitätsnetzwerke, dem suburbanen Habitat und den agro-pharmazeutischen Nahrungsmittelindustrieflächen, vormals Landwirtschaft, gefüllt.3) Die „europäische Stadt“ ist heute ein Kleinod, das zunehmend an Bedeutung verliert – man denke an den rasant wachsenden online-Handel und daraus folgendes Sterben des Einzelhandels oder den Home-Office-Modus auch nach der Pandemie.
Die suburbane Wirklichkeit
Der Grad der Suburbanisierung lässt sich anhand des Verhältnisses von der Zahl der Innenstadtbewohner zur Gesamtbevölkerung des Metropolenraums ablesen: in Berlin-Brandenburg leben derzeit 35,78% in der verdichteten Berliner Innenstadt; in Hamburg sind es mit 34,94% annähernd so viel. Dagegen wohnen in der Kölner Innenstadt nur 19,16% der regionalen Bevölkerung; in Frankfurt am Main wohnt lediglich 6,68% der Gesamtbevölkerung des Rhein-Main Gebiets. Laut einer BBSR-Studie wohnen 84% der Bevölkerung in der BRD außerhalb von Innenstädten.4) Dieser Anteil bildet also eher die Siedlungswirklichkeit ab, als alle Vorstellungen von verdichtetem, urbanen Leben.
Der Grad der Suburbanisierung steigt ständig – aufgrund laxer Haltung zum Flächenverbrauch, der in Deutschland eigentlich auf 20 ha pro Tag beschränkt werden muss, und aufgrund des unausgesprochenen, gesamtpolitisch und -wirtschaftlich gewollten Multiplikatoreffekts der Einfamilienhausproduktion. Ein hohes Interesse daran, die Suburbanisierung weiterzuführen, haben vor allem jene politische Parteien, die besonders in den suburbanen Wahlkreisen erfolgreich sind; hier genügt ein Vergleich zwischen den Karten zu Wahlergebnissen nach Wahlkreisen und zu den suburbanen Siedlungen. Eigentum fördert bekanntlich eine konservative Haltung. Auch die Finanz-, Auto-, Bau- und Konsumgüterindustrien haben kein gesteigertes Interesse daran, den BundesbürgerInnen ihren Traum vom Eigenheim zu nehmen.
Wirkungslose Versprechen trotz Klimawandel
Was würde es bedeuten, wenn in der Bundesrepublik ab 2021 tatsächlich nur noch 20 ha pro Tag an Fläche verbraucht werden dürfte? Wie könnte die Politik das umsetzen? Welche Planungsinstrumente gäbe es dafür? Anteilsmäßig für Bayern würde das beispielweise einen täglichen Flächenverbrauch von 3,9 ha bedeuten (39.000 Quadratmeter). Da stockt allen bayerischen BürgermeisterInnen das Bier im Hals. Außerhalb dirigistischer Länder gibt es keine Metropolregion mit einem wirklich ganzheitlichen, nachhaltigen Regionalplan. In der BRD werden Metropolregionen lediglich diagrammatisch “geplant”, jedoch keineswegs formal wie räumlich gestaltet. Die freie Marktwirtschaft darf sich weiterhin ungehemmt entfalten, um Eigenheimträume zu erfüllen – das sind hierzulande jedes Jahr bis auf weiteres 90.000 davon.5) Klar, dass sich diese mit ihrem notwendigen Mobilitäts- und Verteilernetzwerk nicht auf 20 ha pro Tag Flächenverbrauch begrenzen lassen.
Suburbaner Lebensstil erzeugt Flächenverbrauch, und der treibt den Klimawandel mit voran: Es gibt leider diese verheerenden Verbindungen. Wer untersucht sie? Nein, lieber diskutieren StadtplanungsprofessorInnen über Gestaltungsfreiheit und -vielfalt, postrationalistischen Dingsbums, und so weiter.
Wir haben ja noch so viel Zeit … bis der Klimawandel unumkehrbar wird. Und, überhaupt, auf ein paar Eigenheime an den Siedlungsrändern, ein paar SUVs, ein paar Kilometer Autobahn mehr oder weniger kommt es jetzt auch nicht mehr an. Die Menschen in Deutschland haben sich ihren Spaß hart verdient. Sollen erst einmal die Chinesen, die Nordamerikaner, die Inder ihren CO2-Ausstoß senken, danach könne man in der BRD vielleicht über die eigenen Einsparmaßnahmen auch im Flächenverbrauch nachdenken.