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Stadtrealität, Alltag. (Bild: pixabay, webentwicklerin)
Großprojekte sind nicht mehr das beherrschende Thema des Architektur- und Planungsdiskurses. Dabei gibt es sie, die großen Aufgaben. In einer kleinen Serie stellen wir Großprojekte vor, die nicht der klassischen oder konventionellen Vorstellung von ihnen entsprechen, sich dennoch als Mammutaufgaben stellen. Der erste Teil behandelt die Frage nach dem Bild der Stadt, das die Diskussion über sie prägt und damit den Rahmen dafür steckt, welche Aufgaben wir in ihr behandeln. Dieser Rahmen ist schon lange viel zu eng gesteckt.

Die fragile Balance ist nachhaltig gestört. Läden gehen ein, Kaufhäuser schließen. Der Druck auf Freiflächen ebenso gewachsen wie die Ansprüche an den Privatraum. Es wurde vor allem im letzten Jahr darüber spekuliert, ob die dichte Stadt noch die richtige Antwort auf Fragen der Zukunft ist. Doch mit der Aussicht, dass wir bald wieder in das gewohnte Leben zurückkehren, scheint sich auch der städtebauliche Diskurs darüber zu beruhigen. Aber wir sollten die Fragen, die sich in der Pandemie gestellt haben, nicht vom Tisch wischen, denn sie haben sich schon zuvor gestellt. Und wenn man diese Fragen ernst nimmt, geht es nicht mehr allein um die Stadt, sondern um die Region. Das trifft auf die Lebenswirklichkeit vieler Menschen ohnehin besser zu.

Wie gut ist dicht?

Dichte ist wahrscheinlich ein zu lange etablierter, zentraler Begriff der Städtebaudiskussion der letzten Jahrzehnte, als dass er über Nacht seine magische Aura verlieren könnte. Er scheint (immer noch) jene städtischen Qualitäten handhabbar zu machen, die sich des bezifferbaren Zugriffs entziehen. Dafür, dass die dichte Stadt ein erstrebenswertes Ziel sei, werden allen voran ökologische Gründe angeführt. Dichte wird gefordert, um der flächenversiegelnden, verkehrsinduzierenden und infrastrukturell aufwändigen »Zersiedlung« Einhalt zu gebieten. Außerdem scheint ein gewisses Maß an Dichte auch eine notwendige Voraussetzung dafür zu sein, die Vielfalt an Angeboten und unterschiedlichen Lebensstilen, an funktionaler, kultureller und sozialer Mischung zu gewährleisten, die dann als urban empfunden wird. »Gesellschaft durch Dichte« ist ein Schlagwort, das in den 1960er Jahren propagiert wurde, auch wenn schon damals bekannt war, dass durch (bauliche) Dichte allein Stadt nicht entsteht. Dass die Komplexität des Städtebaus zu hoch ist, als dass in einer Abarbeitung von Kennziffern Qualität garantiert werden kann und es demnach auch kein Mindestmaß an Dichte gibt, das die Qualitäten sichert, ist bekannt. So wird gewarnt, Dichte nicht als Allzweckwaffe zu verstehen, nicht eindimensional zu denken, Dichte nicht ohne Mischung, nicht ohne adäquate Gestaltung zu denken. Trotzdem: Dichte scheint die Voraussetzung für städtische Qualitäten zu sein. Und ist deswegen erst einmal positiv konnotiert. Und hohe Dichte zu fordern ist so lange leicht, wie die tatsächlich wirksame Gesetzgebung verhindert, dass städtische Strukturen so dicht werden, dass sie sozial oder gesundheitlich problematisch werden. Und so kann suggeriert werden: je dichter, desto urbaner, ökologischer, besser. Und selbst wenn man diese Argumentation kritisch sieht: Sie sorgt nur dafür, dass noch die Gegenrede davon, dass Dichte allein nicht ausreicht, zu kurz springt, weil und solange sie den Rahmen anerkennt, auf den sich die Dichteforderung bezieht.

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Londons oökolgischer Fußabdruck ist 125 mal größer als die Fläche der Stadt selbst. (Bild: pxhere, CC0)

Bleiben wir vorerst bei der ökologischen Argumentation. Die mag so recht nur auf den ersten Blick zufriedenstellen. Sind denn dabei auch die Fragen danach, wie die dichten Städte versorgt werden, welche Strukturen sie benötigen, um zu überleben, berücksichtigt? Woher kommt das Trinkwasser, woher der Strom, die Konsumgüter, die Nahrungsmittel, wohin wandert der Müll? Welche Pendlerbeziehungen werden erfasst? Grundsätzlich überrascht der Befund nicht, der im Bericht des Club of Rome von 2018 zu finden ist, die Dimensionen dann aber schon: »Die ökologischen Fußabdrücke der Städte sind riesig, auch wenn die Städte selbst nur einen bescheidenen Teil der Landschaftsfläche ausmachen. Herbie Girardet stellte fest, dass der ökologische Fußabdruck Londons das 125-fache der Fläche der Stadt selbst beträgt, was ungefähr das Äquivalent des gesamten produktiven Landes Englands ist. Eine typisch nordamerikanische Stadt mit einer Bevölkerung von 650.000 würde 30.000 Quadratkilometer Land benötigen, ein Gebiet ungefähr von der Größe Belgiens, rein um ihre materiellen Bedürfnisse zu erfüllen.« Das 125-fache. (1)

Auch aus anderer Perspektive scheint die Forderung nach Dichte fragwürdig. Denn der ungebrochen anhaltende Immobilienboom, der es vielen zunehmend schwer macht, bezahlbaren Wohnraum in der Nähe ihrer Arbeitsstelle zu finden, zeigt: Dichte ist vor allem eine Sache immobilienökonomischer Rentabilität. Im Vorwort zum Band »Gesellschaft durch Dichte« stellt Gerhard Boeddinghaus 1995 fest, schon in den 1960er-Jahren hätten erfahrene Stadtplaner prophezeit, »dass eifrige Spekulanten sich die Thesen von der anzustrebenden höheren Dichte der Bebauung so schnell wie rücksichtslos zunutze machen würden. So kam es dann auch.« (2) Gemessen an den Gewinnmargen, die heute teilweise als völlig leistungslose Gewinne im Immobilienbusiness eingestrichen werden, war die Lage in den 1960er-Jahren ja noch entspannt. Umso erstaunlicher, wie klar damals schon formuliert wurde, was heute die bittere Realität ist, die mit jedem Tag, an dem nicht versucht wird, sie zu ändern, schlimmer wird.

Leichtere Fragen

Ohnehin ist in den Zentren prosperierender Regionen bauliche Dichte seit langem nichts mehr, was noch gefordert werden müsste. Ob Stuttgart, Frankfurt, Hamburg, München, Zürich, Berlin – von Paris oder London ganz zu schweigen: Wenn hier abgerissen wird, dann in der Regel, um danach nur noch höher zu bauen. Die schlicht-naive Forderung „Bauen, bauen, bauen“ hat gerade dort, wo sie erfüllt wird, zu keiner spürbaren Entlastung geführt: Die Mieten sind trotzdem hoch und steigen weiter. Und als sei es eine andere Welt, wächst die Siedlungsfläche draußen Tag um Tag, werden Einfamilienhausgebiete ausgewiesen, Straßen gebaut. Zwar mag die vergleichsweise kurze Phase der politisch gewollten Entmischung und Entdichtung der Städte vorbei sein. Dem Ende nähert sich vermutlich auch die Phase, in der sich in der Stadtplanung das Primat staatlicher Politik als in einem über Wohnungsbauförderung, Entfernungspauschalen und Verkehrswegebau wirksamen fordistisch-keynesianischen Akkumulationsregime (Michael Müller, (3)) niederschlägt. Doch die Realität ist deswegen noch lange keine der funktional und sozial gemischten, dichten Stadt.

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Barcelona. Vernetzt mit der Region und der Welt. (Bild: pixabay, EvgeniT)

Denn der Blick allein auf die dichten Metropolenkerne trügt. Wer die Stadt als regionalen Verflechtungsraum begreift, wird konstatieren müssen, dass diese Stadt nach wie vor dem Trend der Entmischung und Entdichtung folgt. Dabei soll ja nicht vergessen werden: Verdichtungspotenzial gibt es beileibe nicht nur im Wohnungs-, sondern auch im Industriebau; und es stellt sich die Frage, warum Verdichtung, wenn man sie umfassend sowohl ökologisch also auch sozial versteht, zuvorderst beim sozial sensiblen Thema des Wohnungsbaus ansetzt anstatt an denen der Industrieansiedlung und der Produktionsketten, der Mobilitäts- und Versorgungskonzepte. Selektive Nachverdichtungen dort, wo sie entweder höhere Renditen versprechen oder sie leicht sind, weil die Bewohnerschaft keine Lobby hat und die Besitzverhältnisse übersichtlich sind, verstärken nur die Trends, denen zu begegnen sie versprechen. Sie schreiben durch hochpreisige Angebote einerseits die Segregation fort, benachteiligen andererseits die, deren Wohnlage ohnehin schon prekär ist, durch weitere Verdichtungen und damit verbundenen höheren Druck auf die Freiräume noch zusätzlich.

Stadt muss regional gedacht werden, damit die Nutzungen und Funktionen der dichten Kerne wie der peripheren Wohngebiete, die Transport- und Pendlerwege ebenso Berücksichtigung finden wie Teilhabe und Verteilungsgerechtigkeit. Ökologische Folgekosten des Verkehrs werden nach wie vor allenfalls unzureichend und keinesfalls mit steuernder Wirkung dem Verursacher, sondern der Allgemeinheit aufgebürdet. Dass auf Nahrungsmittel sieben Prozent Mehrwertsteuer erhoben werden, auf Kerosin aber keine – wem ließe sich das plausibel vermitteln?

Es scheint, als arbeite sich der Diskurs um Dichte noch an den Fehlern der Stadtplanung der Nachkriegszeit ab, als ob die nicht schon lange bekannt wären. Der Streit um die Neubesetzung der Senatsbaudirektorin in Berlin macht deutlich: Viele aus der Architektenschaft kleben noch immer an veralteten Klischees der guten und der schlechten Stadt. Man begegnet hier dem Verhaltensschema, das Daniel Kahneman in »Schnelles Denken, langsames Denken« so einleuchtend beschrieben hat: Wenn man eine schwierige Frage nicht beantworten will (oder kann), beantwortet man eine, die einfacher zu beantworten ist und so ähnlich klingt. (4) Es ist wie beim Witz über den Menschen, der nachts unter einer Straßenlaterne seinen verlorenen Geldbeutel sucht. Gefragt, ob er ihn denn auch hier verloren habe, antwortet er: „Nein. Aber hier sehe ich etwas.“ Wenn man die Herausforderung der regionalen, vernetzten Agglomerationen nicht annehmen will, redet man von der kompakten europäischen Stadt. Wenn man nicht über die Bodenfrage reden will, fordert man 400.000 neue Wohnungen jährlich. Kann man machen. Hilft aber im Jahr 2022 einfach nicht mehr weiter. Und dabei haben wir die Gebiete ja noch gar nicht in den Blick genommen, die dünn besiedelt sind, die Menschen verlieren, in denen Nahversorgung schwer aufrecht zu erhalten, Infrastruktur zu hohen Kosten zu unterhalten ist. Sie abgekoppelt von den prosperierenden Regionen zu behandeln ignoriert genau die Zusammenhänge, die die Probleme hervorruft. Wir müssen endlich anfangen, dezentral und regional zu denken. Die Aufgabe besteht darin, sich vom Bild der dichten Stadt als dem Gegenüber des Landes zu lösen, um beide in ihren Wechselbeziehungen zueinander diskutieren und gestalten zu können.

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Berlin. (Bild: pixabay, wal_172619)

Ursachen oder Symptome

Im aktuellen Diskurs hingegen wäre es interessant zu beobachten, wie sich Diskussionen gestalteten, wenn man einmal auf Dichteforderungen gänzlich zu verzichten angehalten wäre, da sie allein ja doch kaum hilft, Qualitäten zu gewährleisten und doch nur Gefahr läuft, zu einem Fetisch zu degenerieren oder als konsensfähige, aber letztlich tatsächliche Intentionen tarnendes Mäntelchen zu dienen. Werden alle Qualitäten an nachhaltigen Energiestrukturen, umweltverträglicher Mobilität, einer Stadt der kurzen Wege durch funktionale Mischung, ansprechender und nutzungsfreundlicher Gestaltung eingelöst, brauchte man Dichte nicht mehr separat zu fordern. Man könnte dann darüber nachdenken, wie Flächen für Freizeit und Erholung, Naturräume und Flächen für die Kreislaufwirtschaft so integriert werden, dass die genannten Qualitäten nicht wieder in Frage gestellt werden. Man öffnete damit auch den Blick darauf, dass all diese Forderungen auch dort einzulösen sind, wo Bevölkerungsrückgang und gesellschaftliche Fragen gravierende Probleme stellen. München-Schwabing ist eben kein Modellfall für Kleinstädte, für Städte, deren Bevölkerung zurückgeht oder für ländliche Räume; wir sollten nicht vergessen, auch sie müssen bewohnt werden können.

Und wenn die Pandemie tatsächlich zur Folge hat, dass Menschen, deren Job es zulässt, im Home-Office zu arbeiten, zu einer steigenden Attraktivität peripherer und ländlicher Standorte führt, dann stellen sich Fragen, die durch Dichte nicht zu lösen sind. Weder die, welche neuen Verkehrswege dadurch erzeugt werden könnten – auch hier könnte es den Bumerang-Effekt geben, dass die eingesparten Wege an anderer Stelle durch weitere Wege wieder kompensiert werden könnten. Noch die nach der sozialen Segregation auf regionaler Ebene, die ohnehin schon eine Realität ist, sich aber verschärfen könnte: Denn es sind ja (von wenigen Ausnahmen abgesehen) nicht die gut bezahlten Jobs, die nicht aufs Home-Office ausweichen können. Es wäre fatal, wenn man wieder einmal vergeblich hofft, die Kräfte des Marktes würden die Probleme der überhitzten Wohnungsmärkte schon von alleine lösen. Die vom Bündnis Bodenwende geforderte Enquete-Kommission zur Bodenfrage wäre ein wichtiger Schritt in eine andere Richtung, ein aktiver Schritt dazu, in Zusammenhängen zu denken. Es wäre einer, um Ursachen statt Symptome bekämpfen zu können. Wer allein von der dichten Stadt träumt, redet allenfalls von notwendigen Voraussetzungen für Lösungen. Nicht von ausreichenden.


(1) Ernst Ulrich von Weizäcker, Anders Wijkman u.a.: Wir sind dran. Club of Rome: der große Bericht. Gütersloh 2018, S. 75
(2) Gesellschaft durch Dichte. Kritische Initiativen zu einem neuen Leitbild für Planung und Städtebau 1963/ 1964. In Erinnerung gebracht von Gerhard Boeddinghaus. Braunschweig/ Wiesbaden 1995, S. 10
(3) Michael Müller: Drei Stadtmodelle In: ders.: Kultur der Stadt. Essays für eine Politik der Architektur. Bielefeld 2010
(4) Daniel Kahnemann: Schnelles Denken, langsames Denken, München 2011. S. 280 ff.

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