Ein Traum von Stadtbaukunst? (Bild: Winsor McCay: Little Nemo in Slumberland, Ausschnitt, The New York Herald, Ausgabe 23. Mai 1909, Public Domain)
Bedarf es heute einer institutionalisierten Stadtbaukunst? Als Gegenbewegung zur schematischen, mechanischen Stadterweiterungspraxis entwickelte sich Stadtbaukunst gegen Ende des 19. Jahrhunderts und fand in Praxis und Diskurs ihren Höhepunkt vor dem Ersten Weltkrieg. Seit einigen Jahren wird nun von verschiedenen Seiten deren Neuentdeckung und Neubewertung eingefordert. Doch die Lage heute ist eine andere als die vor über hundert Jahren. Was bedeutet das für die Idee einer Stadtbaukunst im Zusammenspiel mit Städtebau, Architektur und Stadtplanung?
„Städtebau.Positionen“ (14) | Die Serie versteht sich als öffnender Beitrag zum Diskurs über Stadt, als Panorama der städtischen Vielfalt und Themen, mit denen umzugehen wir herausgefordert sind.
Die von der Industrialisierung und frühen Globalisierung angetriebene „Verwandlung der Welt” (1) im 19. Jahrhundert wirkte sich auf alle Bereiche des täglichen Lebens aus. Die Einwohnerzahl der Städte explodierte: Kleinstädte wuchsen zu Großstädten, Großstädte zu Millionenstädten. Glanz und Elend lagen dicht beieinander. Prächtige Boulevards wurden angelegt, während der Bevölkerungsdruck und die Industrialisierung zu extremen hygienischen und sozialen Missständen führten. In der fachlichen, wissenschaftlichen Diskussion wird Ende des 19. Jahrhundert der Ruf nach Regeln für die räumliche Planung der Stadt laut, was letztlich zu der Entwicklung einer neuen Planungsdisziplin, dem Städtebau, führt.
Städtebau als Kunstwerk
Das umfangreichste Werk dieser Zeit ist Josef Stübbens Buch Der Städtebau, das in erster Auflage 1890 erscheint. Die erste Fachzeitschrift Der Städtebau erscheint erstmalig 1904, gegründet von den Architekten Camillo Sitte (Wien), und Theodor Goecke (Berlin). Ziel der Zeitschrift ist – so Sitte und Goecke im Vorwort – die „tausendfältige Einzelarbeit zu einem zusammenschließenden Ganzen”(2) zu vereinigen. Die Monatszeitschrift entwickelt sich zu einem erfolgreichen Medium, in dem neben vielen anderen namhafte Experten wie Stübben, Fischer, Henrici, Gurlitt publizieren.
Bereits fünfzehn Jahre zuvor, 1889, erscheint Sittes Buch Der Städte-Bau nach seinen künstlerischen Grundsätzen. Das Buch macht ihn auf einen Schlag berühmt und katapultiert den Terminus ,Stadtbaukunst’ (im Werk nur beiläufig an zwei Stellen erwähnt) in die Diskussion. Sittes Credo war, dass der „Stadtbau als Kunstwerk” und nicht „nur als technisches Problem” verstanden werden und der Städtebauer „bei den Alten in die Schule” gehen müsse.
Obwohl Sitte sich als entschiedener Gegner der mechanischen Raster-Systeme zeigt (er spricht von „künstlerischen Misserfolgen des modernen Städtebaues”), schließt er ein „verbessertes modernes System” nicht aus und entwickelt im letzten Kapitel des Buchs seine Vision einer „Stadtregulierung nach künstlerischen Grundsätzen” (3). Darunter findet sich auch der Typus des ,Windmühlenplatzes’, der heute wieder in zahlreichen Projekten (etwa im Hunziker Areal in Zürich) auftaucht.
Der Verlust des Straßenraums
Unbestreitbar ist, dass viele Stadtquartiere des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts durch bauliche und stadträumliche Qualitäten überzeugen. Aber wir sollten eine Idealisierung vermeiden. Das 19. Jahrhundert ist eine Zeit des radikalen Umbruchs in allen gesellschaftlichen Bereichen: Osterhammel beschreibt, wie die hier beginnende Effizienzsteigerung durch Technik, Mobilität, globale, wirtschaftliche und kommunikative Vernetzung uns heute noch prägt. (4)
Angetrieben von der Geschwindigkeit des Umbruchs stellen sich um 1900 viele die Frage, wie die Welt im Jahr 2000 wohl aussehe. Die Stadtvisionen von einst – wie überdachte Städte und selbstfahrende Gehwege – sind mittlerweile Realität oder zumindest im Bereich des Machbaren. Und nicht zuletzt verändert die ,Droschke 1. Klasse’, das Automobil, die Stadt wie fast keine andere Erfindung dieser Zeit auf radikale Weise.
In der Zeit des Wirtschaftswunders wurden aus Stadterweiterungen Großwohnsiedlungen. Was dort Platz hieß, war oftmals nur die Abstandsfläche vor einem Großbauvorhaben. Die Diskussion über die Schönheit eines Straßenraums – ob gerade oder gekrümmt, wie um 1900 zwischen Henrici und Stübben entbrannt – war obsolet, denn es gab ja zumeist keinen Straßenraum mehr. Die Stadtbaukunst hatte endgültig ausgedient. Oder wie Le Corbusier in der Charta von Athen 1933 formuliert hatte: „Das Haus wird von da an nicht mehr durch seinen Gehsteig an der Straße kleben.” (5)
Diesen Raumverlust nur dem Automobil anzulasten, greift daher zu kurz. Allerdings wirkte es als Brandbeschleuniger der räumlichen Diffusion der Stadt in der Nachkriegszeit.
Kritik und Wiederentdeckung
Zugleich wuchs aber auch die Kritik am modernen Städtebau. Herauszuheben aus der Vielzahl der kritischen Stimmen ist Jane Jacobs. In ihrem Buch The Death and Life of Great American Cities prangert Jacobs 1961 die rücksichtslosen Flächensanierungen in New York an und verweist auf die Qualität traditioneller Stadträume und mannigfaltiger, gemischt genutzter Stadtstrukturen.
Einen neuen Blick auf die alte Stadt wirft die italienische Typologie-Debatte um 1960. Eine besondere Rolle spielt hier Saverio Muratori, der über die Analyse der traditionellen Stadt feststellt, dass Typologie, Gewebe (Morphologie) und der gesamte städtischen Organismus aufeinander aufbauen würden, und Stadtgeschichte, architektonische und städtische Neuplanung als Einheit zu werten seien. (6) Hier knüpft Städtebau wieder an seine Vergangenheit an.
Ab 1970 wird Bologna zum urbanistischen Wallfahrtsort und Auftakt der denkmalgerechten Sanierung von Altstädten überall in Europa. Geschützt werden in Bologna nicht mehr nur einige ausgewählte Gebäude, sondern das Zentrum als Gesamtdenkmal. 1975 ruft der Europarat unter dem Motto ,Eine Zukunft für unsere Vergangenheit‘ das Europäische Denkmalschutzjahr aus. Die IBA Berlin 1984/87 mit dem von Kleihues geprägten Begriff der ,Kritischen Rekonstruktion der historischen Stadt‘ muss ebenfalls als Pionierarbeit gewürdigt werden.
Betrachtet man die Stadtbaugeschichte des 20. Jahrhunderts, so kann man vereinfachend konstatieren: Es ging vom Block zur Zeile – und wieder zurück. Oder vom geometrischen zum topologischen Raum der Stadt und wieder zurück, oft vereinfacht benannt als eine Bewegung vom Stadtraum zu dessen Auflösung und zurück. (7)
Im Irrgarten der Begriffe
Da in der heutigen Debatte nach wie vor Verwirrung zwischen den Begriffen Stadtplanung, Städtebau und Stadtbaukunst besteht, sollen hier kurz die Begriffe geklärt werden.
,Stadtplanung’ ist das „Bemühen um eine den menschlichen Bedürfnissen entsprechende Ordnung des räumlichen Zusammenlebens – auf der Ebene der Stadt oder der Gemeinde.”(8)
Der ,Städtebau’ liegt an der Schnittstelle zwischen Stadtplanung und Architektur und kann als „baulich-räumliche Organisation”(9) der Stadt und auch als gestalterischer Teil der Stadtplanung bezeichnet werden.
,Stadtbaukunst’ (heute) will die ganzheitliche Betrachtung des Bauens, sozial, ökonomisch, politisch, ökologisch, technisch und kulturell – unter besonderer Berücksichtigung des „künstlerischen Charakter[s] und eine[r] ästhetisch-gestalterischen Seite der Stadt” – „für jegliche städtebauliche Planung in Deutschland”(10) etablieren.
Mit diesem Selbstverständnis einer heutigen Stadtbaukunst wird deutlich, dass Konflikte vorprogrammiert sind: nämlich, dass die Stadtbaukunst einerseits viel zu weit in das Metier der Stadtplanung einzudringen scheint, sie Architekt:innen andererseits nicht weit genug ausgreifen kann: zugunsten des eigenen Anspruchs wird Vertreter:innen der Disziplin des Städtebaus mehr oder weniger der Gestaltungsanspruch abgesprochen.
Braucht es wieder Stadtbaukunst?
Während uns im Nachhinein die historische Stadtbaukunst unter dem Oberbegriff ,Städtebau’ als lebendiger Diskurs höchst unterschiedlicher Akteure erscheinen muss – selbst der Erfinder der „künstlerischen Grundsätze” Camillo Sitte nannte seine Zeitschrift ,Der Städtebau’ und nicht ,Die Stadtbaukunst’ – erfährt die Stadtbaukunst heute eine Monopolisierung durch ein Institut, das Deutungshoheit für sich beansprucht und (zugegebenermaßen sehr geschickt) wichtige politische Entscheidungsträger um sich versammelt.
Das jüngste ,Forschungsprojekt’ des Instituts, der ,Römerhof’ (11) in Frankfurt am Main, erinnert jedoch eher an die Mietskasernen der Berliner Terraingesellschaften als an den von Sitte erwähnten Grundsatz Aristoteles, „dass eine Stadt so gebaut sein solle, um die Menschen sicher und zugleich glücklich zu machen”(12).
Generell erscheint mir fraglich, ob der Begriff ,Stadtbaukunst’ aus seinem historischen Kontext – nämlich der Baukunst im Städtebau ein kongeniales Adäquat zur Seite zu stellen – herausgelöst werden und als Programm zur Lösung aller heutigen Probleme verwendet werden kann. Der Kunstbegriff impliziert, dass etwas Zeitloses und Vollendetes geschaffen wird. Sowenig man ein Werk der bildenden Kunst verbessern kann, dürfte man auch ein Stadtbaukunstwerk nicht mehr verändern. Stadt ist jedoch ständig in Bewegung. Dass es künstlerisch herausragende oder im Sinne des Denkmalschutzes erhaltenswerte städtebauliche Anlagen gibt und auch künftig geben wird, steht dabei außer Frage. Erst die Geschichte zeigt jedoch, ob sich das Layout der neu geplanten und gewachsenen historischen Schichten als ein „Kunstwerk des Städtebaus” (wie es Sitte auch genannt hatte) beweist. Als planerische Zieldefinition oder gar moralische Instanz scheint mir Stadtbaukunst wenig geeignet.
Im Städtebau wird zunächst nur die baulich-räumliche Struktur betrachtet. Dabei wird wenig Einfluss darauf genommen, was die Politik, Bürger, Investoren und Unternehmen daraus machen. Zur Lösung dieser Problematik haben sich mittlerweile bewährte Instrumente herausgebildet, die von vorbereitender Bürgerbeteiligung über darauf aufbauende Wettbewerbe, partizipative Prozesse, Konzeptvergabeverfahren bis hin zur baukulturellen Qualitätssicherung reichen.
Nicht erst seit den aktuellen pandemischen Geschehnissen wissen wir, dass sich die Transformation unserer Städte beschleunigt. Alleine der Klimawandel ist ein epochales Ereignis. Mit Forderungen nach höherer Dichte und gleichzeitiger Deregulierung sollte man vorsichtig umgehen, denn es ist fraglich, inwiefern damit auf neue Herausforderungen angemessen reagiert werden kann.
Lebenswerte Stadt ist mehr als Gestaltung
Die eine lebenswerte Stadt beflügelnden Kräfte sind auch, aber eben nicht nur gestalterischer Natur und wirken nicht nur an der baulichen Oberfläche, sondern liegen konzeptionell im Hintergrund, denkt man etwa an den human scale und den Abschied von der Priorisierung des Autoverkehrs, den neben vielen anderen der dänische Stadtplaner Jan Gehl in seinem Film und in seinen Büchern anmahnt. Noch immer ist Jacobs The Death and Life of Great American Cities in weiten Teilen aktuell. Wie Stadtplanung und Städtebau die Qualität der Beziehungen von Menschen untereinander beeinflussen, legt auch Charles Montgomery anhand von internationalen Praxisbeispielen in seinem 2013 erschienenen Buch Happy City. Transforming Our Lives Through Urban Design anschaulich dar.
Und noch immer lohnt es, über die Bedeutung des Parzellenbaus nachzudenken, auf den Hoffmann-Axthelm 1990 in seinem Aufsatz Warum Stadtplanung in Parzellen vor sich gehen muß hinweist: Für ihn ist die Parzelle Verteilungseinheit, Nutzungseinheit für Funktionsmischung und Grundlage der Stadtökologie. Darüber hinaus funktioniere das städtische Haus auf der Parzelle als soziale Einheit, historische Speichereinheit und Wahrnehmungseinheit. Selbst der Ausfall einzelner Zellen lasse das System insgesamt nicht kollabieren. Hoffmann-Axthelm spricht von der „Belastbarkeit der Stadt”, von einem „stabilen Raster”, das es dem Einzelnen erlaube, den eigenen Ort zu behaupten, und davon, dass die Siedlung oder Wohnmaschine der Moderne dies alles nicht zu leisten vermag. (13)
Wohltuend vermeidet es Hoffmann-Axthelm dabei, auf Stilfragen in der Architektur einzugehen. Ebenfalls nennt er weder Mindest- noch Maximalgrößen oder potenzielle Bauherrschaften. Auch wenn es andere Überzeugungen gibt, denkt man beispielsweise an das gescheiterte WerkbundStadt-Projekt in Berlin (14), ist der Parzellenstädtebau nicht das Primat von Privaten. Er eignet sich auch – wenn der Wille da ist – für gefördertes, soziales Wohnen, genossenschaftliches Bauen und Erbbau. Die Mehrkosten für Nachhaltigkeit, Resilienz, Autarkie sind lediglich die der zusätzlichen Brandwände und ein innovatives Mobilitätskonzept, das flächendeckende Tiefgaragen vermeidet. Bezogen auf die Nutzungsdauer und nachhaltende Flexibilität sind das ,Peanuts‘. Manch schöne, neue Altstadtrekonstruktion mit abwechslungsreichen Stadträumen und vermeintlich kleinteiliger Gebäudestruktur, höchststadtbaukünstlerisch begleitet, ist dagegen in Wirklichkeit eine große Maschine und damit nahezu für alle Zeiten in Stein gemeißelt. (15)
Wie die wenigen Beispiele zeigen, mangelt es an guten Empfehlungen jenseits einer institutionalisierten Stadtbaukunst nicht, sie werden leider nur allzu oft in den Wind geschlagen. Die wichtigste Erkenntnis aber vielleicht ist, dass wir Stadtstrukturen und Architekturen bauen müssen, die resilient, multifunktional und wandlungsfähig sind, die heute hervorragend und auch in Zukunft gut funktionieren und von der Bewohnerschaft angenommen werden. So wie wir die Qualität vieler historischen Stadtquartiere schätzen, sollten auch die zeitgenössischen von künftigen Generationen wertgeschätzt werden können. Eine gute Gestaltung und ein Schuss Stadtbaukunst stehen dem nicht im Weg, im Gegenteil.