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Dorfschönheiten


Viel von dem, was über die ländlichen Räume gesagt oder geschrieben wird, ist städtische Sichtweise. Sie idyllisiert das Land und die vermeintlich naturnähere Lebensweise oder arbeitet sich an Verlusterzählungen ab. Und irgendwann, zwischendrin, empfiehlt eine hilflose Ministerin, doch aufs Dorf zu ziehen. Geholfen ist damit wenig. Besser ist es, sich mit dem konkreten Ort zu befassen – dann finden sich auch konkrete Wege zur Verbesserung. Im Bestand, mit dem Bestand, in der Mitte, am Rand. Drei Beispiele – aus den Landkreisen Schweinfurt, Main-Tauberkreis und Kaiserslautern.
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In Sprache und Dimension in den Bestand eingepasst und ihm doch Neues hinzugefügt: Bürgerzentrum und Energiescheune (rechts) in Niederwerrn. (Bild: Sebastian Schels)

Bürgerzentrum Niederwerrn


Die Geschichte dieses Bürgerzentrums ist eine, die sich zu erzählen lohnt. Sie handelt von einem Ort, der wegen seiner Nähe zu Schweinfurt und dessen Industrie schnell wuchs. Heute hat er etwa 9000 Einwohnende, die alte Dorfstruktur macht nur einen Bruchteil der Siedlungsfläche aus – und liegt an dessen Rand. Eigentlich fehlt es an nichts. Nur dort, wo die ältere Geschichte von Niederwerrn noch auszumachen ist, lagen die Dinge im Argen. Leerstand, Abrisse, Umbauten, ein für die Ortsmitten dieser Größenordnung übliches Schicksal. 2014 nun zogen die amerikanischen Streitkräfte ab, der Handlungsdruck wuchs – mit intensiver Bürgerbeteiligung und einem integrierten Entwicklungskonzept reagierte man darauf. Und stellte fest, dass die leere Mitte des alten Kerns auch die Bewohner:innen bedrückte. Sie wünschten sich ein Bürgerzentrum und einen Ort, an dem die Geschichte nicht nur durch den Verfall hindurch sichtbar wird, sondern einen Ort, an dem man zusammenkommen und zusammen feiern kann.

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Blick auf das Areal von Süden vor Beginn der Bebauung. Oben im Bild erkennbar der Übergang zur den neueren Ortsteilen. (Bild: Julian Dittert)

Der nächste Teil der Geschichte erzählt von der Beharrlichkeit, die nötig war, diese Saat aufgehen zu lassen. Über die Jahre hinweg hat die Gemeinde mit einer engagierten Bürgermeisterin durch Aufkauf und Grundstückstausch die Voraussetzung dafür geschaffen, dass die neue Mitte entstehen konnte – und dann auch gebaut werden durfte. Und zehn Jahre später, im Sommer 2024, das neue Ensemble eröffnet werden konnte, dort wo der alte Ortskern sich zu den neueren Siedlungsbereichen öffnet.

Das Büro Schlicht Lamprecht Kern hatte nicht nur den gesamten Prozess mit viel Herzblut begleitet. Sondern mit dem Bau der neuen Mitte, des Bürgerzentrums, auch viel Gespür für den Ort bewiesen. Die neue Mitte besteht aus drei Teilen, die je nach Perspektive auch wie vier wirken und so in das leicht abfallende Grundstück eingebettet sind, dass sich in einem von Durch- und Übergängen geprägten Freiraum eine stimmige Choreografie entwickelt. Dazu ist auch die Straße im Süden verkehrsberuhigt worden. Die Strategie der Gemeinde, selbst aktiv an der Entwicklung zu arbeiten, dehnt sich auf weitere Häuser aus, die saniert und umgebaut werden. Senioren- und inklusives Wohnen sind hier geplant.

Herzstück ist das Bürgerzentrum, gefügt aus zwei länglichen Baukörpern, die so gegeneinander verschoben sind, dass sich im Freiraum gleichsam offene wie geschützte Plätze ergeben. Nach Norden mit dem Zugang zum Bürgercafé, nach Süden zum Bürgersaal mit Foyer und Teeküche und dem darüberliegenden Trausaal. Eine  Treppe, ausreichend dimensioniert, dass sie sich auch als Sitzgelegenheit anbietet, verbindet beides. In einem sehr kleinen Fachwerkhaus ist ein alter Laden als Museum eingerichtet, auf der anderen Seite des Bürgerhauses eine umgebaute Scheune, die Nahwärmezentrale, alt und neu wunderbar miteinander verbindend: Auf dem Sockel über dem Gewölbekeller findet sich die zur Energiegewinnung des Ensembles benötigte Technik – Wärmepumpe, Pelletsheizung und Photovoltaik – in einsehbaren Boxen.

Aber auch das Bürgerzentrum selbst ist der Idee der Nachhaltigkeit verpflichtet: Hier wurde der eine Teil aus Recyclingbeton errichtet, verwendet wurde dafür das Material einer in unmittelbarer Nähe abgebrochenen Brücke. Dieses Material prägt den einen, Holz den anderen Teil des Bürgerhauses – genau wie im Innern, wo sorgfältig eingepasst und detailliert entworfene Einbauten dafür sorgen, dass sich eine räumliche Großzügigkeit entwickeln kann, die der im Außenraum entspricht. Der ist wegen der Leitungen der Energiezentralen und das Regenwasser auffangenden Zisternen nur wenig bepflanzt worden. Er kann so aber für Lesungen, Dorffeste und als Bühne für die Bücherei genutzt werden, die bald in einem Haus im Süden untergebracht werden wird, das dafür saniert werden soll. So gibt es hier nicht nur viele Geschichten zu erzählen – es werden auch neue hinzukommen.


Ort: Schulstraße 7, 97464 Niederwerrn, Landkreis Schweinfurt
Bauherrin: Gemeinde Niederwerrn
Architekten: Schlicht Lamprecht Kern Architekten, Schweinfurt
Mitarbeit: Franziska Klein, Dominik Malucha
Projektteam Gemeinde Niederwerrn: Bettina Bärmann, 1. Bürgermeisterin, Thomas Brand, Leitung Bauamt, Leitung Bauhof, Sarina Schurlik, Sekretariat der 1. Bürgermeisterin/Kultur und Öffentlichkeitsarbeit Team Kämmerei, unter Leitung Andreas Harth
Tragwerksplanung: IB Joachim, Schweinfurt
Landschaftsarchitekten: Dietz und Partner Landschaftsarchitekten, Elfershausen
HLS: IB Kiesel, Gerolzhofen
Energieberatung: Mai Bauphysik, Gerolzhofen
Entwicklung Gesamtenergiekonzept: IfE – Institut für Energietechnik, Amberg
Elektro: IB Bopp, Schweinfurt
Lichtplanung: Day & Light, München
Ausstellungskonzept Museum: FranKonzept Dr. Jochen Ramming, Würzburg
Beschriftung Gebäude und CI: Marcel Neundoerfer / grafisches Büro, Wien
Kosten: Neubauten R-Beton + Holzhybrid: 2,2 Mio. € netto reine Baukosten
Flächen: Neubau gesamt: 575 qm; Energiescheune: 136 qm; Museum: 97,5 qm
Fotografie: Sebastian Schels, Stefan Meyer

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Ein Ensemble aus zwei Schulgebäuden wurde zu einem Geswundheitszentrum umgebaut und mit einem neuen Entree verbunden. (Bild: Alexander Bernhard)

Gesundheitszentrum in Igersheim


Auch dieses Projekt hat eine etwa zehnjährige Geschichte. Bereits 2013 nahm die Gemeinde Gespräche mit den Ärztinnen und Ärzten des Orts auf, um die Zukunft der ärztlichen Versorgung zu sichern – eine der wichtigsten infrastrukturellen Aufgaben für Dörfer und kleinere Gemeinden. Igersheim, eine Gemeinde in der Nachbarschaft von Bad Mergentheim im Nordosten von Baden-Württemberg, zählt etwa 5500, der eigentliche Ort selbst etwa 4500 Einwohnende. Überlegungen, wie man die ärztliche Versorgung sicherstellen könne, überschnitten sich mit der Frage nach der Zukunft der ehemaligen Grundschule, die leer stand, weil sie in ein neues Gebäude gezogen war.

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Der Solitär des alten Schulhauses von 1914 ist als repräsentativer Bau des Orts erhalten und neu ins Ortsbild eingefügt. Im Bild die nach Norden, zum Friedhof hinorientierte Seite und die Rückseite des neuen Entrees. (Bild: Alexander Bernhard).

Der Abriss der beiden ehemaligen Schulgebäude, das eine ein repräsentativer Solitär von 1914, das andere ein sachlicher Riegel von 1952, stand eigentlich nie zur Debatte. Beide bilden ein orstbildprägendes Ensemble, nicht weit vom Ortskern und Bahnhof gelegen. Die Gemeinde warb unter der Ärzteschaft dafür, dieses Ensemble zu einem Gesundheitszentrum umzubauen und war schließlich damit erfolgreich – heute sind acht Praxen, eine Apotheke und zwei Wohnungen hier untergebracht. Das Architekturbüro von Rolf Klärle, mit vergleichbaren Aufgaben im ländlichen Raum gut vertraut, hat die beiden Gebäude mit einem Verbindungsbau zu einem Ensemble gefügt, das einen nach Süden geöffneten Platz fasst und die barrierefreie Erschließung gewährleistet. Die dunkle Stahlkonstruktion bildet als Scharnier ein neues Entree für beide Bestandsgebäude, die als eigenständige Bauten weiterhin sichtbar bleiben. Vor dem neuen Entree setzt ein alter Nussbaum, der erhalten bleiben konnte, auf dem klar und zurückhaltend gestalteten Platz einen Schwerpunkt, Sitzmauern grenzen zur Straße ab, ohne zu trennen. Auch das alte Schulhaus wird nun über das neue Entree erschlossen. Es hatte seinen Haupteingang ursprünglich auf der anderen, dem Friedhof zugewandten Seite, auch die wird nun durch den neuen Verbindungsbau, hier mit einer Holzfassade bestückt, gerahmt und mit einem kleinen Vorplatz aufgewertet. Hier liegen nun der Nebeneingang für die Neurologie-Praxis und der Zugang zu den Wohnungen in den Obergeschossen des alten Schulhauses. Ein weitere, holzverkleidete Ergänzung ist an das Schulhaus aus den 1950er Jahren am Süden eingefügt, sie nimmt einen weiteren Zugang und zusätzliche Räume sowie überdachte Stellplätze auf.

Die energetische Sanierung und der für die neue Nutzung notwendige Umbau im Innern der beiden Bestandsgebäude respektiert deren Charakter und beschränkt sich weitgehend darauf, die ursprüngliche Erscheinung zu erhalten und neu sichtbar zu machen – die Geschichte der voherigen Nutzung sollte weiterhin sichtbar bleiben. Es ist übrigens nicht das einzige Projekt, mit dem Igersheim sich der Ortsentwicklung stellt: Auch der Bahnhofsplatz und die Ortsmitte, beides je nur wenige hundert Meter vom neuen Gesundheitszentrum entfernt, wurden in den letzten Jahren neu gestaltet.


Ort: Schulstraße 2-4 97999 Igersheim
Bauherrin: Gemeinde Igersheim, vertreten durch Bürgermeister Frank Menikheim
Architektur: architekturbüro KLÄRLE, Bad Mergentheim; Mitarbeit: Alexander Mangold, Julia Weber
Tragwerksplanung: Konstruktion Dipl.-Ing. Rüdiger Klumpp, Weikersheim
Fachplanung Heizung/Sanitär/Elektro/Bauphysik: Burmester & Partner, Würzburg
Nettogrundfläche: 2.237 qm
Fertigstellung: 2023
Fotografie: Alexander Bernhard, Landshut

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Luftibild aus Südwest auf das neue Ensemble, das hier noch eingerüstet Mehrfamilienhaus ist inzwischen fertiggestellt. (Bild: Michael Heinrich)

Nachverdichtung Ortskern Hütschenhausen


Manchmal ist es aber nicht leicht mit dem Erhalt. Veraltete und jahrelang brachliegende, selten mit den besten Materialien errichtete Häuser sind oftmals zu halten. So war es auch in Hütschenhausen, einem Ort etwa zwanzig Kilometer westlich von Kaiserslautern. Mit knapp 2500 Einwohnenden ist sie die kleinste der drei hier vorgestellten Ortschaften. In der Ortsmitte sollte auf dem Areal mit Gebäuden, die aus oben genannten Gründen nicht erhalten werden konnten, ein „Wohnpark“ entstehen; ein auf die Vorstellungen des Investors zugeschnittener B-Plan war bereits verabschiedet worden. Doch der hatte sich dann doch vom Vorhaben zurückgezogen – und das geräumte Gelände lag mehrere Jahre brach, bis schließlich ein ortsansässiges Unternehmen in die Bresche sprang. Der verwirklichte zusammen mit Bayer Uhrig Architekten in den ersten Etappen das Projekt deutlich vorsichtiger, den Umständen angepasster. Weitere Bauten, ein Ärzte- und ein Appartmenthaus, sollen bald folgen.

Errichtet wurden zunächst neun kleinere, aber angemessen dimensionierte Einfamilienhäuser – ein Typ, einschließlich seiner gespiegelten Variante wurde zu einem verdichteten Ensemble gruppiert, in einfacher Ausstattung, nicht unterkellert, mit einem Bad statt den inzwischen häufig üblichen zweien und einem offenen Anbau als Stellplatz mit eingestellter Box als Abstell- und Fahrradraum. Als Ziegelmassivbauten mit Sattelfach, weiß verputzt, der Anbau als Holzkonstruktion – und eben realisiert auf bereits erschlossener Fläche in zweiter Reihe, wo zuvor landwirtschaftliche Gebäude gestanden hatten. „Uns erscheint dieser Bautypus nur dann noch gerechtfertigt, wenn er der Nachverdichtung des Bestands dient“, so die Architekten – und besser als es die neu ausgewiesenen Gebiete mit ihrem Stilpotpourri sind ist das allemal.

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Blick aus einer Loggia des neuen Mehrfamilienhauses auf das sich im Süden angfügende Ensemble neuer Einfamilienhäuser. (Bild: Michael Heinrich)

Zur Ortsmitte hin, an der Kreuzung zur Hauptstraße, markiert – als zweiter, etwas später verwirklichter Baustein – ein dreigeschossiges Mehrfamilienhaus den Auftakt in das neue Areal und bindet es gleichzeitig in den Bestand ein. In einem hellen Petrol-Ton, mit roten Markisen und hellgerahmten Öffnungen strahlt es schon fast südländisches Flair aus. Auch dieses Haus wurden als Ziegelmassivhaus mit Holzfenstern und leicht geneigtem Satteldach errichtet. Der zweigeteilte Baukörper ist am mittigen Treppenhaus so versetzt, dass die Größenordnung des Orts aufgenommen wird und sich der Raum zur Hauptstraße hin weitet. Die Wohnungen haben ungewöhnliche Grundrisse: schräggestellte Wände geben dem zentralen Wohnbereich eine angenehm bergende Form, lassen den angrenzenden Zimmer etwas mehr Platz und finden ihre Entsprechung in der sich nach außen weitenden Form der Loggien. Etwas Grandezza für Wohnungen in einem Ort, in dem sich viele nichts anderes als ein Einfamilienhaus vorstellen können – und doch ist es wichtig, alternative Angebote gerade für die zu schaffen, denen das Haus nach dem Auszug der Kinder zu groß geworden ist.

Erwähnung verdient schließlich noch das Energiekonzept der »Kalten Nahwärme« zur Wärmeversorgung, das als Quartierslösung mit einem für das Oberflächenwasser vorgesehenen Retentionsbecken kombiniert wurde. Bei der Kalten Nahwärme wird Erdwärme durch Sonden in 160 Metern Tiefe durch angeschlossene Sole-Wasser-Wärmepumpen nutzbar gemacht und kann zum Heizen, im Sommer auch zum leichten Kühlen verwendet werden. Auch das wird in Zukunft wichtig werden.


Ort: Hauptstraße / Hauptstuhler Straße, 66882 Hütschenhausen
Bauherrschaft: Reimchen Immobilien GmbH,
Architektur: bayer | uhrig Architekten PartGmbB, Kaiserslautern

Projektteam: Dirk Bayer, Andrea Uhrig, Nils Luscher, Philip Becker,  Friederike Herrmann
Tragwerksplanung: TWP Klaus Jung, 67661 Kaiserslautern
Haustechnik: Stadtwerke Ramstein-Miesenbach, Ramstein-Miesenbach
Elektro: Elektro Reimchen GmbH, Ramstein-Miesenbach
Bauphysik: SCHAUMLöFFEL engineering, 67677 Enkenbach-Alsenborn
Brandschutz: Dr. Burghardt Rogsch, 67435 Neustadt an der Weinstraße
Landschaftsarchitektur: Jochen Gempp Gartendesign, 22453 Hamburg
Fotografie: Michael Heinrich