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Wie gehört das „organische Bauen“ zum „Neuen Bauen“, zur „Moderne“? Die Kategorisierung der Architekturgeschichte gilt es stets zu hinterfragen, weil sie intendiert ist und instrumentalisiert werden kann. Veröffentlichungen zum Werk Hans Scharouns und eine fehlende Ausstellung werfen wieder neue Fragen auf.

oben: Die Berliner Philharmonie (Bild: Ursula Baus)

Die Konzerthaus-Revolution

Fast unbemerkt jährte sich im November 2022 der Todestag von Hans Scharoun (1893-1972) zum fünfzigsten Mal. Doch es gab kein großes Scharoun-Jahr, keine seitenfüllenden Lobgesänge in den Feuilletons wie drei Jahre zuvor beim Bauhausjubiläum. Selbst eine Werkschau in der Berliner Akademie der Künste, deren Präsident Hans Scharoun in der Wiederaufbauphase von 1955 bis 1968 war (und von da an ihr Ehrenpräsident), suchte man vergebens. Das entspricht in etwa der Rolle, die Scharouns Architekturauffassung heute in weiten Kreisen der Öffentlichkeit spielt: keine. Selbst unter Architekten wird seine Bedeutung kaum gewürdigt. Im Gegenteil. Ausgerechnet in Berlin, das ihm herausragende Bauwerke wie Philharmonie und die Großsiedlung Charlottenburg verdankt, wird sein Erbe sogar seit viele Jahren regelrecht bekämpft. Das führt zu der absurden Situation, dass die Schweizer Architekten Herzog & de Meuron künftig Scharouns Idee eines offenen Kulturforums an der Philharmonie mit ihrer ebenso überdimensionierten wie banalen Museumsscheune M20 bloßstellen dürfen – nachdem sie sich zuvor bei ihrer Elbphilharmonie großzügig bei Scharouns Philharmonie bedient haben. Ohnehin die Philharmonie: Scharouns geniale Raumfindung hat die Typologie Konzerthaus weltweit revolutioniert. Jeder Besuch in diesem Haus mit seinen fließenden Formen und farbigen Fenstern ist ein Fest.

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Carsten Krohn: Hans Scharoun. Bauten und Projekte. 208 Seiten. Verlag Birkhäuser, 2018, ISBN 978-3-0356-0679-9, 59,95 Euro.

Grundlagen – das Lebenswerk

Immerhin widmen sich einige Neuerscheinungen Scharouns Werk. Bereits vor einiger Zeit erschien »Hans Scharoun. Bauten und Projekte« von Carsten Krohn. Es bietet eine vollständige Dokumentation von Scharouns Bauten, begleitet von einem Text von Eva-Maria Barkhofen. Für jeden, der sich erstmals mit Scharouns Werk vertraut machen will, bietet es eine gute Grundlage.

 

Ralf Bock: Hans Scharoun. Gestalt finden.

Ralf Bock: Hans Scharoun. Gestalt finden. 488 Seiten, 696 farbige und 192 schwarzweiße Abbildungen und Pläne, 24 x 30 cm. Park Books, 2022. ISBN 978-3-03860-289-7, 68 Euro

Schauen und Erkennen

Just erschienen ist »Hans Scharoun. Gestalt finden«, in dem sich Ralf Bock (Text) und Philippe Ruault (Fotografie) dem Werk des gebürtigen Bremers annähern. Auch wenn der Rezensent die wunderbaren Fotografien von Krohn denen von Ruault vorzieht, so freut er sich doch über beide Bücher. Warum? Weil jede Publikation zu begrüßen ist, die dazu beiträgt, das bis heute dramatisch unterbewertete Werk Scharouns bekannter zu machen.


Die Freiheit des zeichnerischen Arbeitens

Einen tiefen Einblick in Hans Scharouns Herkunft und Entwicklung eröffnet nun erstmals Eva-Maria Barkhofen mit ihrem fulminanten Buch „Hans Scharoun. Architektur auf Papier. Visionen aus vier Jahrzehnten (1909-1945)“. In ihrem Opus magnum hat sie aus dem umfangreichen Material von rund 1.100 nicht projektgebundenen utopisch-visionären Blättern Scharouns, die sich im Archiv der Berliner Akademie der Künste befinden, eine Auswahl getroffen und die Arbeiten in fünf Werkgruppen chronologisch gegliedert. Von den bereits beachtlichen Schülerzeichnungen (1909-12) über die Entdeckung des Visionären (1912-1918) hin zum Weg in die Abstraktion, das organische Bauen und die „Flucht in die utopischen Megastrukturen“ in der Zeit der inneren Emigration des „Dritten Reichs“.

Eva-Maria Barkhofen: Hans Scharoun. Architektur auf Papier Visionen aus vier Jahrzehnten (1909–1945). 322 Seiten, 150 Abbildungen farbig, 150 schwarzweiß, 23 × 27 cm. ISBN 978-3-422-98763-0. Deutscher Kunstverlag, München, 52 Euro

Eva-Maria Barkhofen: Hans Scharoun. Architektur auf Papier
Visionen aus vier Jahrzehnten (1909–1945). 322 Seiten, 150 Abbildungen farbig, 150 schwarzweiß, 23 × 27 cm. ISBN 978-3-422-98763-0. Deutscher Kunstverlag, Berlin/ München, 52 Euro

Deutlich wird dabei, wie sehr Scharouns Aquarelle nicht nur als visionäre Architekturbilder zu verstehen sind. Sie wirken als autonome Kunstwerke. Faszinierend ist zu beobachten, wie sich von den frühen, expressionistisch geprägten Aquarellen die Farbpalette hin zu den späteren Arbeiten verändert, wie die Striche feiner und zugleich freier werden. Scharouns Zeichnungen und Aquarelle führen an die Grenzen von Raum und Zeit, von Konstruktion und Form. Darin besitzen sie eine hohe Visionskraft und eine bis heute überwältigende Modernität. Zugleich wird deutlich, warum Scharouns Rezeption letztlich so gering geblieben ist. Seine Zeichnungen entziehen sich dem schnellen Konsum. Seine Raumschöpfungen sind stets komplex, gelegentlich auch kompliziert, sind Ausdruck seines ganzheitlichen Weltverständnisses und gehen doch stets vom menschlichen Maßstab aus. Damit verschließen sie sich auch der vermeintlichen kubischen Klarheit der Bauten der Neuen Sachlichkeit seit den späten1920er-Jahren.

„Neues Bauen“: mehr als gerade Linien und Normen

Zugleich zeigen sie, wie vielschichtig das Neue Bauen war, das in der gegenwärtigen Rezeption allzu fix auf das Bauhaus und dessen Protagonisten reduziert wird. Beispielhaft für diesen bereits in den 1920er Jahren ausgetragenen Konflikt innerhalb der Vertreter der Moderne, stellt Barkhofen einen Briefwechsel zwischen Hans Scharoun und Adolf Behne vor. Einer Gruppe von Kino-Entwürfen Scharouns, die laut Barkhofen möglicherweise für eine Bauhaus-Ausstellung in Weimar gedacht waren, wirft Behne vor, rückwärtsgewandt, ja „etwas verstaubt“ zu sein. Scharoun dankt für diese „Kopfwaschung“ des Architekturkritikers und versucht im Gegenzug, ihm seinerseits das Konzept einer Architektur zu vermitteln, die „aus der Notwendigkeit [eines] inneren Wesens“ erwachse. „Ohne Anwendung irgendeiner Theorie“. Behne, Freund des modernen Zweckbaus, lässt sich jedoch nicht überzeugen. „Sie fragen warum muss alles gerade sein? Es muss nicht alles gerade sein – wenn das Ungerade begründet ist — aber wir müssen vom geraden Gedanken ausgehen“ lässt er Scharoun wissen. Damit wird der Grundkonflikt der architektonischen Moderne formuliert: Hier eine organisch geformte Welt- und Architektursicht, eine Einheit aus Bauen, Leben und Natur bei Scharoun. Dort eine auf Normierung, Standardisierung und Massenproduktion beruhende Haltung, wie sie das Bauhaus anzustreben versuchte. Scharouns Ausführungen an Behne bekommen aber noch eine zusätzliche Dimension, da er seine Überlegungen zum organischen Bauen an den Gedankengang zu „Aufbau und Organisation einer Stadt“ bindet, leider ohne dies in seinem Brief zu vertiefen. Das führt zu der Frage, ob um 1925 eine andere Moderne denkbar gewesen wäre und welche Form sie angenommen hätte. Die Antwort lautet mit Blick auf das Werk von Hugo Häring, Hans Scharoun aber auch Erich Mendelsohn selbstverständlich „Ja“. Wie diese Moderne hätte aussehen können, zeigen jene Bauwerke, die Scharoun vor allem nach 1945 in Berlin und andernorts verwirklichen konnte. Seine Wohnhäuser und Gemeinschaftsbauten faszinieren bis heute durch ihre Innovationskraft wie durch ihre Schönheit.

Eva-Maria Barkhofens eindrucksvolles Buch eröffnet einen feinen neuen Zugang zu Scharouns Gedanken- und Bildwelten. Es wäre wünschenswert, wenn die Berliner Akademie die versäumte Würdigung Scharouns durch eine ausführliche Werkschau zügig nachholen würde. Nicht nur als eine Verneigung vor ihrem einstigen Ehrenpräsidenten. Sondern vor allem, um dessen zukunftsweisende städtebaulichen und architektonischen Visionen für den zeitgenössischen Architekturdiskurs wieder wirksam werden zu lassen. Scharouns Haltung, Natur und Architektur ganzheitlich – organisch – zu gestalten und vom Menschen aus zu denken ist aktueller denn je.


Siehe auch eine Ausstellung in Bremenhaven bis 11. Juni 2023:

https://bzb-bremen.de/programm/hans-scharoun-entwuerfe-visionen-modelle/