Stilkritik (100) | Die Floskel von den „Grenzen des Wachstums“ ist schon so oft bemüht worden, dass sie wie ein alte Verwandte wirkt, die man hin und wieder auf Familienfesten trifft. Sie gehört dazu, man kennt die Geschichten, die sie erzählt. Aber eigentlich hat man mit ihr im Alltag nichts zu tun. In den Diskussionen wird deswegen gerne eine präzise definierte Größe bemüht, an denen sich der Wachstumswahnsinn illustrieren lässt. Aber ist es immer die richtige?
Auch die Aktivisten von Fridays for Future hatten die Frage gestellt: Wieviel Wohnfläche ist genug? Es ist inzwischen eine oft wiederholte Größe, die durchschnittlich 47 Quadratmeter Wohnfläche je Kopf. Und fast immer wird die Zahl als Beleg dafür genannt, dass wir über unsere Verhältnisse leben. Eine Zahl, an der sich je nach Argumentationszusammenhang festmachen lässt, wie sehr der Einzelne zu Wohnungsnot, fehlender Urbanität oder zu ökologischem Irrsinn wie Flächenfraß, Energieverbrauch und CO2-Ausstoß beiträgt. In der Studie, die von Fridays For Future in Auftrag gegeben wurde, heißt es, der Wohnflächenzuwachs – 1960 betrug die Wohnfläche je Person noch 19 Quadratmeter – „ist unter anderem wegen des Klimaschutzes problematisch. Ihn zu begrenzen und im Idealfall umzukehren wäre ein starker Hebel zur Emissionsminderung.“ Korrekt. Nun wissen wir aber leider, dass solche Klagen wenig helfen, man schaue auf die Straßen. Kaum einer wird behaupten, ein SUV sei ein Beitrag zum Allgemeinwohl oder zum Klimaschutz. Dennoch boomt das Geschäft mit den aufgeblasenen und hochgerüsteten Monsterkarossen. Und es ist nicht einmal schwierig zu erklären, warum: Wenn keiner einen SUV fahren würde, wäre es nicht schlimm, es machte einer doch. Und weil fast alle so denken, gibt es so viele SUVs.
Ohne schlechtes Gewissen
Deswegen darf man aber natürlich trotzdem kritisieren, dass für den Transport meist ja nur einer Person mehr als zwei Tonnen durch die Welt gewuchtet werden müssen. Und man darf auch fordern, dass die Wohnfläche pro Kopf nicht weiter steigen sollte. Man kann darauf verweisen, dass der Anstieg eine soziale Komponente hat, wenn bezahlbarer Wohnraum fehlt und andere es sich auf vielen Quadratmetern bequem machen, zu schweigen von riesigen Luxuswohnungen, die aus spekulativen Gründen leerstehen. Mich wundert allerdings bei der Fridays for Future-Studie und bei einigen anderen, die die steigende Wohnfläche je Person kritisieren, dass eine andere Zahl sehr viel seltener, ja eigentlich fast nie genannt wird. Es ist die der Siedlungs- und Verkehrsfläche (ironischerweise mit SuV abgekürzt) je Person. Sie beträgt bei uns mehr als 600 Quadratmeter; 2016 waren es 618, 1997 waren es noch 513 (>>>, S. 19). Auch wenn sie so selten genannt wird, ist diese Zahl doch eigentlich die aufschlussreichere. Sie schließt Verkehr, Gewerbe, Industrie ein. In diese Zahl gehen die Abhängigkeiten ein, die den Alltag prägen: wie produziert wird, wie Wohnen, Arbeiten und Konsum zusammenhängen, wie effizient Fläche genutzt wird. Sie zeigt, wie persönliches Verhalten und der strukturelle, gesellschaftliche Rahmen, die politischen und wirtschaftlichen Entscheidungen zusammenwirken. Die Siedlungs- und Verkehrsfläche je Einwohner ist darin auch weniger abstrakt als die Flächenneuinanspruchnahme je Tag, die Zahl (56 Hektar), die ja sonst auch oft in Diskussionen auftaucht.
618 Quadratmeter sind eine Herausforderung, vor allem dann, wenn man daraus ableiten will, was zu tun sei. Sie öffnen nicht das Türchen für Architektur und Gestaltung, für die Alternativen in der Wärme des überschaubaren Wohnumfelds, wie es die Wohnfläche je Person tut. Diese suggeriert, intelligente Gestaltung sei eine Lösung, es sei sinnvoll, Flächen gemeinsam zu nutzen. Man sollte das nicht kleinreden, aber auch nicht übersehen, dass dergleichen höchstens ein Beitrag sein. Erstaunt nimmt man zur Kenntnis, dass die Fläche je Kopf auch bei den Paradebeispielen gemeinschaftlichen Wohnens Kalkbreite in Zürich oder Spreefeld in Berlin über dem Durchschnitt liegt. (*) Dass die Siedlungs- und Verkehrsfläche je Person in München mit 159 am niedrigsten ist, in ländlichen Regionen auch über 2500 liegen kann, ist außerdem herzlich wenig geeignet, daraus vorschnelle Schlüsse zu ziehen. Flächenintensive Betriebe ziehen dort hin, wo sie die Flächen bezahlen können. Dass die Pendlerdistanzen ständig wachsen, kann man nicht einfach mal so eben den Menschen vorwerfen, die weite Wege zur Arbeit bewältigen müssen. Die 618 Quadratmeter erschweren es, dem Einzelnen ein schlechtes Gewissen zu machen.
Die Wohnfläche je Kopf hingegen zielt auf das Individuum: Du musst dein Verhalten ändern. Frag nicht, was die Gemeinschaft für dich tun kann, sondern was du für die Gemeinschaft tun kannst. Es ist das umgekehrte neoliberale Mantra, das uns suggeriert, man könne selbst sein Schicksal in die Hand nehmen, der Staat müsse sich zurücknehmen, damit die Kräfte des Individuums aktiviert werden. Ein solcher Appell ist anscheinend so sinnlos wie das Bemühen, Kindern die Freude an Süßigkeiten mit dem Verweis auf die Gesundheit meinen ausreden zu können. Selbst wenn sich eine bestimmte Anzahl von Wohnflächenbegüterten zur Reduktion zwingt, erzeugt das noch keinen Druck, wie es das Konsumverhalten tun könnte. Wenn immer mehr Menschen in Unverpackt-Läden einkaufen, gibt es irgendwann ein besseres Angebot, mehr Unverpackt-Läden. Was aber passiert, wenn ich meine Wohnfläche freiwillig reduziere? Eher nichts. Eher mach ich es anderen – und kaum denen, die es schwierig auf dem Wohnungsmarkt haben – leichter, mehr zu konsumieren. Wie beim Thema Mobilität: Wenn ich Fahrrad fahre, störe ich den SUV-Fahrer weniger, als wenn ich selbst einen lenke. Zudem zeigt uns die Krise, wie wichtig ein Wohnraum ist, der Belastungen, die man nicht vorhersehen konnte, aufzunehmen. Ihn effizient zu reduzieren wäre das Gegenteil von der so oft geforderten Resilienz. Deswegen sind Projekte wie das Spreefeld ja am Ende doch gut, auch wenn die Quadratmeter Nutzfläche je Kopf bei 53,5 liegen.
Schwere See
Die 618 Quadratmeter lassen sich nicht mehr unkompliziert auf die individuelle Realität herunterbrechen. Was ist mit dem, der eine größere Wohnung in der Stadt hat, aber dafür kein Auto fährt? Was macht es aus, wenn jemand an zwei Orten arbeitet? Welche Rolle spielt das Angebot auf dem Wohnungsmarkt, welche die Einkaufsmöglichkeiten? Sicher spielt die Wohnfläche je Kopf auch bei der Siedlungsfläche je Kopf eine maßgebliche Rolle. Aber es stellen sich andere Fragen. Vor allem solche nach Politik und Steuerung, die bei uns immer noch ungern gestellt werden. Das sollte man aber tun, auch und gerade weil sie unbequem sind. Sie sind nicht nur unbequem, weil über dem, der sie äußert, gern mal der Eimer gesammelten Unsinns und Unflats in Form von Sozialismus- oder Ökodiktaturvorwürfen entleert wird. Sie sind auch deswegen unbequem, weil sie das Verhältnis von individuellem Verhalten zu allgemeinen und strukturellen Entwicklungen einschließen, weil sie die Frage nach den Grenzen politischer Steuerung ebenso stellen wie die nach der Selbstverständlichkeit, mit der Privilegien in Anspruch genommen und verteidigt werden. Gerade deswegen muss darüber diskutiert werden, welche Regulierungen notwendig sind.
Am Ende landet man bei der Erkenntnis, dass man weder mit Selbstverpflichtungen noch mit Technik weiterkommt. Und dass Architektur und Städtebau ihren Beitrag erst leisten können, wenn die Voraussetzungen es gestatten, dass sie ihr Potenzial überhaupt entfalten können. Dass die Diskussionen politische sein müssen, dass sie über soziale Gerechtigkeit ebenso wie über individuelle Verantwortung, über politische Steuerung ebenso geführt werden müssen, wie über das, was wir unter Freiheit verstehen wollen, die nicht eine auf Kosten anderer oder noch nicht lebender Menschen ist. Diskussionen darüber, Privilegien abzubauen, Kapital und Wirtschaft in die Pflicht zu nehmen. Eine darüber, was wie bepreist und beziffert werden muss, weil es Kosten für die Allgemeinheit und zukünftige Generationen erzeugt. Keine einfachen Diskussionen. Sie müssen deswegen mutig geführt werden. Denn sie dürfen nicht auf den schnellen oder breiten Konsens hoffen. Aber sie sind immer noch besser als die, die Lösungen suggerieren, wo keine zu finden sind.