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Gewann den Deutschen Städtebaupreis 2020: Quartier am ehemaligen Blumengroßmarkt, Berlin. (Bild: Hanns Joosten /bbzl)

Mietendeckel, Kandidatenkrampf, Corona bestimmten die Nachrichten. Aber es gibt mehr zu berichten: In Stuttgart wurde vorgestellt, welche Projekte die regionale IBA vorantreiben wird, in Berlin wurden die Preisträger des Deutschen Städtebaupreises bekanntgegeben.

40 Jahre lang gibt es den Deutschen Städtebaupreis inzwischen. Im Rückblick stellen die ausgezeichneten Projekte der letzten Jahrzehnte einen guten Überblick über die Städtebaugeschichte der jüngeren Vergangenheit dar – von eher kleinmaßstäblichen Einfügungen wie dem Nikolaizentrum in Osnabrück (1984), einer Stadtsanierung wie dem Mannheimer Jungbusch (1983) bis zur Stadtreparatur wie der Rheinufergestaltung in Düsseldorf (1998), von den neuen Stadtquartieren ab den 1990er Jahren wie der Gartenstadt Falkenhöh in Falkensee bei Berlin (1996) oder dem Scharnhauser Park in Ostfildern bei Stuttgart (2006) bis zu den komplexen Aufgaben einer diversen und heterogenen Stadtgesellschaft wie dem IBA Weltquartier in Hamburg (2014). Recht umfangreich ist diese Geschichte im Internet dokumentiert. Neben dem Hauptpreis wird seit 1997 auch ein Sonderpreis vergeben, der „neuen städtebaulichen und stadtplanerischen Handlungsfelder, Strategien und Verfahrenswegen“ gewidmet ist. Hier wurde das Berliner Planwerk Innenstadt ebenso ausgezeichnet wie „Bilder einer Zwischenstadt“ (beide 2006) oder das Grandhotel Cosmopolis in Augsburg (2016).

Vorne: Berlin und Tübingen

 

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Quartier am ehemaligen Blumengroßmarkt, Berlin. (Bild: Hanns Joosten /bbzl)

Am 23. April nun wurden in Berlin die Gewinner der Auslobung von 2020 bekannt gegeben. Für den Hauptpreis waren 81 Projekte eingereicht worden, zehn Nominierungen wurden vorab bekannt gegeben, ausgezeichnet hat die Jury unter Vorsitz von Christina Simon-Philipp das Projekt Waller Sand in Bremen, den ersten Bauabschnitt des Neckarbogens in Heilbronn, das Jüdische Gemeindezentrum mit Synagoge in Regensburg sowie historische Fronfeste in Tirschenreuth.

Durchgesetzt hat sich schließlich das Quartier am ehemaligen Blumengroßmarkt. Hier hatte die Stadt Berlin das erste Mal auf Konzeptverfahren gesetzt. Nach dem städtebaulichen Entwurf von bbzl böhm benfer zahiri wurde unter Erhalt der Blumenmarkthalle gezeigt, welches Potenzial gehoben werden kann, wenn die Grundstücke nicht an den Höchstbietenden vergeben werden, sondern sich an sozialen, kulturellen, gemeinschaftsorientierten Qualitäten orientiert. Gemeinschaftliche Teilhabe, aktive Erdgeschossbereiche, gemischte Nutzung und starke Architektur haben hier zusammengefunden.

Das Thema des Sonderpreises 2020 lautete: „Städtebau revisited: Preise – Praxis – Perspektiven“. Hier waren keine Einreichungen erforderlich: Alle bislang ausgezeichneten Projekte standen zur Diskussion. Fünf Projekte waren nominiert worden, die Neue Straße Ulm und Münchens Jüdisches Zentrum sowie die nach vorangegangenen Bürgerprotesten gegen Flächensanierungen heute vorbildlichen Stadtsanierungen aus Köln (Stollwerckareal) und Hochheim am Main. Es gewann die Südstadt Tübingen.

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Tübingen, städtebaulicher Entwicklungsbereich Stuttgarter Straße, Französisches Viertel. (Bild: Christian Holl, 2020)

Heute kaum noch vorstellbar: Die Grundlage des Städtebaus war ein Wettbewerb, den Studierende der Uni Stuttgart gewonnen hatten (Martin Feketics, Holger Kortner, Leonhard Schenk, Matthias Schuster und Dietmar Wiehl; Feketics, Schenk und Schuster begleiteten später das Projekt als Lehen drei Architekten Stadtplaner). Spiritus Rector des Modells war Andreas Feldtkeller, damals Leiter des Stadtsanierungsamts der Stadt, der die Potenziale der Stadtentwicklung durch Baugemeinschaften erkannte und dafür sorgte, dass die Stadtentwicklung auf der Parzelle betrieben wurde – das alles bei hoher Qualität des öffentlichen Raums, mit einem, quartiersdienlichen Mobilitätskonzept, einer komplexe Mischung sowohl von Nutzungen wie von Altbausubstanz und Neubau und unter Gewährung architektonischer Freiheit – bis heute beispielhaft.

Die beiden Gewinner zeigen, dass eine differenzierte Diskussion über Maßstäblichkeit und Körnung sinnvoll ist – sowohl die große Einheit als auch der Städtebau auf der Parzelle können hervorragende Ergebnisse zeitigen. In beiden Fällen – Berlin und Tübingen, Parzelle hier und größere Einheit dort – geht es letztlich auch um das Wie und um die Frage, wie langfristig Qualitäten gesichert werden, wie robust das städtebauliche Gesamtkonzept ist und in welchem Kontext man operiert. Man darf also gespannt sein, wie sich das Quartier am ehemaligen Blumengroßmarkt in zehn oder zwanzig Jahren präsentiert.


„Produktive Stadt“ wird IBA-Thema


Beispielhaft will die IBA in der Region Stuttgart noch werden. Nach der ersten Anlaufzeit wurde vorgestellt, welche Projekte man bis 2027 verfolgen will. Und unter welchem Schwerpunkt man sie präsentieren möchte. Das hatte man bislang offengelassen, nun sollen sie unter dem Titel „Produktive Stadt“ segeln. 14 Projekte hat man bislang bestimmt, weitere zehn bis fünfzehn sollen bis 2027 dazu kommen. Sie werden intensiv von der IBA begleitet, könnten Ausstellungsort werden, in Vereinbarungen werden für die Realisierung konkrete Ziele verbindlich festgehalten.

Diese Projekte werden ergänzt durch solche, die wichtige Impulse für Architektur und Stadt der Zukunft geben können, die IBA bietet hier die Plattform für Sichtbarkeit und Austausch von ehrgeizigen und experimentierfreudigen Projekten; sie werden unter dem Label „IBA-Netz“ zusammengefasst. Noch gefunden werden sollen die IBA-Quartiere, die mehrere für die Zukunft der Stadt wichtige Themen so behandeln, dass sie „zu komplexen und vielschichtigen Vorbildern für die Stadt von morgen“ werden.

Blick auf den Bestand des IBA’27-Projekts »Otto-Quartier Wendlingen«

Blick auf den denkmalgeschützten Bestand des IBA’27-Projekts „Otto-Quartier“ Wendlingen. (Bild: IBA’27)

In der ersten Reihe stehen also vorerst 14 Projekte. Sie sollen dazu dienen, den Bestand zu transformieren: Alte Werkgelände und Fabrikareale, etwa in Nürtingen, Böblingen, Salach, teilweise mit denkmalgeschütztem Bestand wie in beiden Vorhaben aus Wendlingen. Viele liegen in einer günstigen Lage zum regionalen Nahverkehr, denn, so lässt die IBA verlauten, „zur Produktiven Stadt gehören obendrein Themen wie die Zukunft der Zentren und die vielfältigere Nutzung von Bahnstationen und ihrem Umfeld als Orte der Begegnung.“ Also: Wo Gewerbe vorherrschte, sollen gemischte genutzte Strukturen entstehen, sollen, wie in Wendlingen „Kreative, Planer und Unternehmer zusammen mit den Menschen in der Region das Quartier gemeinschaftlich entwickeln.“ In Stuttgart wird es unter anderem um den Standort der Interimsoper gehen, wird ein innerstädtisches Parkhaus einer neuen Quartiersmitte weichen – oder sie aufnehmen, denn noch ist nicht entschieden, ob es tatsächlich abgerissen werden wird. Hier, wie in vielen anderen Fällen auch, stehen die Wettbewerbe, die Konzeptvergaben noch aus, ist also noch nicht zu erkennen, in welche Form die viel versprechenden Formulierungen („zeitgemäße Nutzungsmischung“, „urbanes Quartier“, „Verbindung von Kultur, Produktion und Wohnen“) gegossen werden sollen.

Erste Entscheidungen


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Wettbewerbssieger: Der städtebauliche Entwurf von JOTT architecture & urbanism GbR für das IBA’27-Projekt „Produktives Stadtquartier Winnenden“. Bild: JOTT architecture & urbanism/IBA’27)

Luftbild: Gelände des IBA’27-Projekts »Produktives Stadtquartier Winnenden«, 02.11.2020

Luftbild Projektgebiet Winnenden. (Bild: IBA’27)

Luftbild des Projektgebiets »AGRICULTURE meets MANUFACTURING« in Fellbach

Luftbild des Projektgebiets „Agriculture meets Manufacturing“ in Fellbach. (Bild: IBA’27)

Einige Wettbewerbe wurden aber doch schon abgeschlossen. Einen gewannen Hild und K und Studio Vulcan, sie entschieden die Konkurrenz für das Quartier Böckinger Straße in Stuttgart-Rot für sich, das als eines der wenigen Projekte bislang unbebaute Flächen in Anspruch nehmen wird. Die locker Stadträume fassende Bebauung wird gestalterisch wie funktional durch gemeinschaftlich genutzte Freiräume zusammengehalten.

Ebenfalls bereits entschieden ist der Wettbewerb für ein Quartier, das auf 5,5 Hektar am Rand von Winnenden realisiert werden soll – ein weiteres Projekt auf grüner Wiese. Ihn gewann vor wenigen Wochen das Büro JOTT architecture and urbanism aus Frankfurt. Die gleichzeitig dichte wie offene Struktur soll landwirtschaftliche Nutzung, Gewerbe und Wohnen an logistisch günstiger Lage nahe einer Bundesstraße flächensparend zusammenführen. Vertikal gemischt mit Gewerbe unten, Wohnen, Dachgärten und Gewächshäuser darüber; als Allemenden genutzte Freiräume sollen auch hier eine hohe gemeinschaftsdienliche Funktion erfüllen, sei es als Bolzplatz oder als Streuobstwiese.

Selbstversorgung und Tüftler sollen hier eine Heimat finden – ein schönes Bild, das noch zu beweisen haben wird, ob es Idylle neben Hochleistungslandwirtschaft und Higtechindustrie bleibt oder das Potenzial hat, Nukleus einer neuen Mischung von Nutzungen, von Landschaft und Bebauung zu werden, ein Modell für eine Stadt der Kreislaufwirtschaft, die, wenn sie Realität werden soll, im wesentlich größeren Maßstab den direkten Austausch von Produktion, Wohnen und Konsum und Receycling zu organisieren hätte. Auf einem anderen Areal in Fellbach sollen mit ähnlichem Ziel Gewerbegebiet und Landwirtschaft gemischt werden. Bei der IBA klingt das so: „Bei den Planungen geht es unter anderem um Möglichkeiten einer Durchmischung und Nachverdichtung des Gewerbegebiets, um die Qualität der städtischen Räume und Optionen zur Stärkung der urbanen Landwirtschaft.“

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Luftbild des Sindelfinger Krankenhaus-Areals. (Bild: IBA’27, Stampe)

Eine harte Nuss wird der Umgang mit dem Bestand der Nachkriegsmoderne werden – so manche scheint allerdings wohl zu hart zu sein. So wurde beim Postareal in Böblingen, dessen Architektur nicht unbedingt den meisten Menschen als erhaltenswert gelten wird, bereits die Chance vergeben, zu zeigen, wie auch solche Architektur, denn in ihr ist ja genauso graue Energie gespeichert, eine Basis für Entwicklungen sein kann, in der Menschen eine gemeinsame Zukunft sehen wollen. Die Wettbewerbsauslobung verlangt den Abriss der Gebäude.

Vorbildlich könnte hingegen, wenn sie gelingt, auch die Konversion des Sindelfinger Krankenhaus-Areals werden: Ein acht Hektar großes Areal am Stadtrand, mitten im Wald, geprägt von Großstrukturen, soll transformiert werden, der Klinikkomplex größtenteils erhalten bleiben. Die Herausforderung werden nicht nur die großen Bauvolumen sein, sondern die Antworten auf die Frage, wie man den Komplex so aufbricht, dass die stark auf interne Abläufe optimierte Struktur einer weicht, die Innen und Außen alltagstauglich miteinander verzahnt.



Lageplan zum städtebaulichen Entwurf »Am Rotweg« (1. Preis: ISSS research | architecture | urbanism, Berlin & topo*grafik, Marseille; Bild: ISSS / topo*grafik)

Lageplan zum städtebaulichen Entwurf „Am Rotweg“ (1. Preis: ISSS research | architecture | urbanism, Berlin & topo*grafik, Marseille; Bild: ISSS / topo*grafik)

Mit dem Intendanten Andreas Hofer galt es bei dessen Berufung als ausgemacht, dass die Zukunft des Wohnens eine besondere Rolle spielen werden – tatsächlich finden sich auch hier Projekte, auf deren Umsetzung man gespannt sein darf. Ein Sonderforschungsbereich der Universität entwickelt ein adaptives Wohnhochhaus, das zeigen soll, wie mit neuster Technik Material- und Energieaufwand gesenkt werden kann. Und gerade entschieden wurde der Wettbewerb für genossenschaftliches Wohnen in Stuttgarts Stadtteil Zuffenhausen. Zwischen einer Bebauung aus den 1950er Jahren sollen 250 bis 280 neue Wohnungen entstehen. Bäume bleiben erhalten, die Bauten sind drei- bis siebengeschossig, zwischen ihnen spannt sich ein feinmaschiges Netz kleiner Plätze. Gewinner sind ISSS Research Architecture Urbanism (Berlin) mit topo*grafik.  Soweit also so gut – nun wird es also in die Umsetzung gehen. So viel Zeit ist bis 2027 ja nicht.