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Hochzeitsturm Plüderhausen, Architekt Uwe Schröder, 2017–2019. (Bild: Stefan Müller)

In der vergangenen Woche stellte David Kasparek an dieser Stelle mit Max Otto Zitzelsberger, Feyyaz Berber und Uwe Schröder drei Positionen vor, die aktuell mit ihren Arbeiten nach einer sprachfähigen Architektur suchen. Im Gespräch mit David Kasparek führt Uwe Schröder hier aus, wie sich seine Architekturauffassung im Laufe der Jahre veränderte und wie nach und nach das Romantische in den Fokus seiner Arbeit geriet.

David Kasparek: Im Laufe der Zeit hat sich die Architektur gewandelt, die Sie im Büro denken und realisieren. Zwar gab es auch früher schon Backstein – etwa bei den Bonner Projekten in der Dorotheenstraße oder am Haus 108 –, aber neben den Materialien haben sich auch Formen von Bauteilen geändert. Etwa bis zum Projekt des Atelier- und Galeriehauses, ebenfalls in Bonn, waren die Gebäude größtenteils weiß verputzt und in ihren klaren Volumen deutlich einem Architekturverständnis zuzuordnen, das dem der architektonischen Moderne entsprach. Inzwischen sind geneigte Dächer ins Spiel gekommen, deren Konstruktionen zum Teil offen gezeigt werden, Rund- und Spitzbögen, dazu Farben. Woher kam dieser Wandel?

Uwe Schröder: Eigentlich sind die frühen Gebäude gar nicht weiß verputzt – auch wenn sie so wahrgenommen werden. Sie sind sehr überlegt in einem Beige- oder Elfenbeinton verputzt. Aber das spielt hier keine Rolle, da Ihre Beobachtung, dass sich Dinge verändert haben, sehr wohl richtig ist. Für mich verbinden sich mit der architektonischen Moderne zwei Begriffe: Abstraktion und Autonomie. Mit beiden Begriffen habe ich mich beschäftigt und bei dieser Beschäftigung ist mir klar geworden, dass der Weg der Abstraktion eine Sackgasse ist. Am Ende, wenn man alles abgezogen hat, wenn nichts mehr abzuziehen ist, dann ist das, was die Architektur eigentlich ausmacht – oder doch ausmachen sollte – gleich mit ausradiert.

Diesen Weg, nach und nach alles abzuziehen und damit größtmögliche Abstraktion zu erreichen, ist Ihr Lehrer Oswalt Mathias Ungers gegangen und hat ihn Schritt für Schritt bis 1996 zum Kölner „Haus ohne Eigenschaft“ ausgereizt …

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Galerie- und Atelierhaus, Bonn, 2009–2015. (Foto: Stefan Müller)

Ja. Ungers hat mich natürlich auch stark geprägt. Vor allem sein Spätwerk. Zu Beginn seiner Arbeit war Ungers durchaus an der Räumlichkeit der Architektur interessiert. Im Laufe der Zeit wandelte sich das aber und am Ende war es die Form, an der er interessiert war, die Form, wie er sagte, „und nichts als die Form“. Ohne irgendeine Eigenschaftlichkeit.

Wenn Sie nun aber festgestellt haben, dass Sie dieser Weg nicht weiterführte, welche Rolle spielte der von Ihnen schon genannte Autonomie-Begriff dabei?


Im Laufe der Zeit habe ich gemerkt, dass der Weg zu immer mehr Abstraktion für mich eine Sackgasse ist. Die Auseinandersetzung mit der Eigenschaftslosigkeit – also mit dem Autonomie-Begriff, nach dem Sie fragen – hat mich in ein fatales Dilemma geführt. Man geht dabei ja irgendwie immer von einer Architektur aus, die ihre ganz eigene Sprache spricht und sich von allen Einflüssen freimacht. Diese Autonomie war immer auch mit der Begründung der Architektur als Kunst verbunden. Die Feststellung dieser doppelten Sackgasse hat mich auf der einen Seite in eine Auseinandersetzung mit dem Räumlichen geführt und mich auf der anderen darüber nachdenken lassen, wovon die Architektur eigentlich bestimmt ist. Nicht die Abstraktion und die Autonomie als modernes Erbe – und auch das Erbe meines Lehrers – waren für mich noch von Bedeutung. Stattdessen habe ich mich von diesen Positionen mit einer gewissen Fliehkraft entfernt.

Diesen Kräften folgend sind andere architektonische Positionen entwickelt worden, denen bestimmte Überlegungen zugrunde liegen. Sie hatten schon von dem gesprochen, was Architektur ausmachen sollte, wovon sie bestimmt ist. Was ist es, das sie Ihrer Meinung nach ausmacht?


Man kann dabei sehr gut zwischen inneren und äußeren Bestimmungen unterscheiden. Die äußeren Bestimmungen der Architektur wären vielleicht der Zweck, der Ort und sicher auch die Zeit. Die inneren Bestimmungen der Architektur wären dann das Material, die Konstruktion, die Form, die Funktion und der Raum. Während die äußeren Bestimmungen unter dem Autonomie-Begriff von der Architektur sozusagen abgeschnitten wurden, sind sie mir aber immer wichtiger geworden. Etwa beim Nachdenken über den Zweck, wohinter sich letztlich die Wohnenden selbst verbergen, oder mit Blick auf den Ort, von dem die Architektur auszugehen hat. Das alles vor dem Hintergrund der Betrachtung unserer Zeitgenossenschaft und der Probleme von Generik und divergenter Orte. Das betrifft die Frage woran es liegt, dass die Orte immer ähnlicher werden.

Das bezieht sich auf Ihre Probleme mit der Autonomie der Architektur und den, wie Sie sie nennen, äußeren Bedingungen der Architektur. Wie steht es um die inneren?

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Galerie- und Atelierhaus, Bonn, 2009–2015. (Foto: Stefan Müller)

In den 1980er Jahren haben alle immer von der Sprache der Architektur geredet – auch Rossi und Ungers. Dabei ist aber immer relativ unklar geblieben, was das eigentlich bedeuten sollte. Wenn man jedoch einmal darüber nachdenken wollte, dann sind es eben diese inneren Bestimmungen der Architektur, die Eigenschaftlichkeiten, die einem Gebäude selbst anhaften. Die Beschäftigung mit diesen Eigenschaftlichkeiten hat die Abstraktion für mich grundsätzlich in Frage gestellt. Insbesondere das Nachdenken über den Raum, das bei mir in den letzten zwanzig Jahren stattgefunden hat, hat bei mir dazu geführt, dass ich mit Blick auf konkrete Architektur, den Raum als das eigentliche Ziel ausgemacht habe. Ich baue ein Haus nicht des Materials wegen, der Konstruktion, der Form oder der Funktion wegen, sondern wegen der Räume.

De Raum ist ja vermeintlich fast immer wesentlicher Kern der Architektur. Im Laufe der Zeit haben sich viele Architekt:innen, Philosoph:innen und Soziolog:innen zu diesem Thema geäußert. Was hat Sie dabei umtrieben, zu welchen Schlüssen sind Sie gekommen?

Wenn ich das affirmativ bei mir selber nachvollziehe, hat dieses Nachdenken über Raum, Räume und Räumlichkeit der Architektur drei Ansätze hervorgebracht. Der erste ist die Raumtheorie. Das war schnell eine Auseinandersetzung mit Phänomenologie, mit Innen und Außen etwa. Dann hat sich die Raumkartierung dazugesellt. Eine Methode, die vor allem auf die Stadt bezogen ist, aber auch dem Ansatz der Phänomenologie folgend, und versucht Räume zu kartieren. Mit dem Ziel, das Potenzial räumlicher Intervention im Entwurf aufzeigen zu können. Der dritte Punkt ist der, der am konkretesten auf Ihre Ausgangsfrage zielt: die Raumästhetik. Dabei geht es um die Leiblichkeit räumlicher Wahrnehmung. Das führte zu einer Auseinandersetzung mit Farbe und ganz konkret im Moment mit Licht und Schatten.

Sie haben auf der einen Seite den Zweck als äußere Bedingung der Architektur ausgemacht, auf der anderen, der inneren Seite, die Funktion. Diese beiden Begriffe sind im Laufe der letzten hundert Jahre immer wieder wild vermengt worden, was zu einer großen Unschärfe führte. Deswegen noch einmal: wie unterscheiden Sie Zweck und Funktion mit Blick auf die Architektur?


Der Zweck ist keine Eigenschaft des Gebäudes. Die Funktion aber ist eine Eigenschaft des Gebäudes. Wenn man nur weit genug zurückgeht, trifft man hinter dem Begriff des Zwecks auf die Wohnenden, auf uns. Um mit Heidegger zu sprechen: wir sind die Wohnenden. Das ist unsere existenzielle Seins-Weise. Es ist also fatal, den Zweck von der Architektur abzuschneiden. Weil nur von der Seite des Wohnens überhaupt eine sinnstiftende Belebung und Erneuerung der Architektur ausgehen könnte. Die Funktion dagegen ist eine dem Gebäude eingeschriebene Handlungsanweisung.



Inwiefern?

In der Anordnung eines Raumgefüges kann ich zum Beispiel Hinweise geben, die den Gebrauch dieser Räume beschreiben, ermöglichen oder sogar verordnen. Das ist immer eine Frage der Intention, die ich mit der inneren Räumlichkeit der Architektur verbinden möchte und die wie eine Gebrauchsanweisung die vielen Möglichkeiten des Gebrauchs der Räume aufzeigt.



Ist das nicht eine Art dritte Ebene, weil sich die Funktion erst durch das Funktionieren selbst erfüllt, also erst in dem Moment, da die Wohnenden auch wirklich wohnen?


Sie haben recht. Es ist gewissermaßen eine unsichtbare weitere Ebene. Aber es ist eben eine und sie wird dann sichtbar, wenn ein Gebäude schlecht funktioniert. Das Einräumen der Kultur des Wohnens ist eine Hinterlegung einer Absicht: das ist Funktion. Hermann Czech hat das einmal offener formuliert: Funktion wird im Entwurf bestimmt.

Mich irritiert der Hinweis auf die Bestimmung in diesem Zusammenhang. Ein Schraubendreher ist dazu bestimmt zu funktionieren in dem man mit ihm Schrauben dreht. Aber in dem Moment, da man das nicht mehr tut, funktioniert er nicht mehr. Er ist dann ohne Funktion, auch wenn sein Zweck nach wie vor das Drehen von Schrauben ist. Wir könnten diesen Schraubendreher nun Zweck-entfremden und mit ihm eine Flasche Bier öffnen. Der Gestaltungstheoretiker Johannes Lang spricht davon, dass das eigentlich eine Funktionserfindung oder -erweiterung ist und keine Zweckentfremdung.

Genau. Der Zweck des Mobiltelefons ist die Möglichkeit zu telefonieren, seine Funktion ist das Telefonieren.

Sie haben mich einleitend korrigiert und darauf hingewiesen, dass schon die frühen Bauten nicht weiß, sondern farbig waren. Welche Rolle hat das damals gespielt?

Mir ging es auch damals schon um so etwas wie Sinnlichkeit. Wenngleich das nichts mit der Polychromie der späteren Arbeiten zu tun hatte. Im Laufe der Zeit hat mich, auch in der Folge der Auseinandersetzung mit Semper, die Bekleidung des Raums immer mehr interessiert, als die Bekleidung der Wand und damit die Frage, wie all das Materiale, und dazu zählt die Farbe ja am Ende, schließlich raumwirksam wird. Mit dem Beige der frühen Arbeiten ging es mir um eine gewisse Formwirksamkeit, die im Laufe der Zeit aber eine nachgeordnete Bedeutung bekommen hat.

Die Folge waren Gebäude, die nach und nach romantischer wurden, weil sie bei den Benutzer:innen oder Passant:innen bestimmte Bilder provozieren…

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Romhof, Bonn, 2009–2014. (Foto: Stefan Müller)

Ich lebe in zwei Welten der Architektur: In der Welt der Vorstellung und in der Welt der Realität. Die eine ist die Welt der Imagination, die andere die der Vernunft. Beide gehören in der Architektur aber zusammen. Die Wirklichkeit – also das, was auf uns wirkt – und das Romantische auf der einen Seite, die Realität und die Rationalität auf der anderen Seite. Im Moment aber denke ich viel stärker über die erstere nach, also über das Romantische in der Architektur.

Und dabei sind Sie an die Grenzen Ihrer Möglichkeiten mittels einfarbigem Putz und Backstein in einer Tonart gekommen?


Ja. Wenn man der Abstraktion folgt, dann entsteht am Ende ja etwas, in dem ich vielleicht nicht mal mehr ein Haus lesen kann. Es geht also auch um Verständlichkeit, Lesbarkeit und Nachvollziehbarkeit auf der einen Seite. Und es geht um das konkrete auf der anderen Seite. Mich interessiert heute viel mehr, worin ein Haus bestimmt ist – und das auf einer generellen, allgemeinen Weise. Wenn ich zurückdenke, gehörten geneigte Dächer zu den verbotenen Dingen (lacht). Von Bögen und Gewölben ganz zu schweigen. Das war alles mit der Architekturgeschichte verbunden – aber nicht mit der jüngeren Historie und schon gar nicht mit der eigenen Ausbildung. Die Ausbildung war im Grunde genommen ideologisch. In meiner Ausbildung gehörten solche Dinge zum Geächteten, aber heute gehören sie zum Repertoire dazu. Das heißt nicht, dass man ein geneigtes Dach haben muss. Aber man kann! Man muss keinen Bogen machen. Aber man darf. Das hat auch etwas mit dem Geschichtsverständnis zu tun und mit der Überwindung dieses Dualismus zwischen architektonischer Moderne und vorausgehender Architekturgeschichte. Für mich spielt das keine Rolle mehr. Die architektonische Moderne ist genauso Architekturgeschichte wie andere vorausgegangene Epochen. Damit erweitert sich die Sammlung der Referenzen und des architektonischen Vokabulars.

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Romhof, Bonn, 2009–2014. (Foto: Stefan Müller)

Was aus den verschiedenen Spielarten der Moderne wurde und heute unsere gebaute Umwelt in Stadt und Land prägt, steht in der öffentlichen Wahrnehmung in der Kritik. Mir scheint ein breites Verständnis für viele Projekte – auch mit Architekturpreisen ausgezeichneten Projekte – jenseits des architektonischen Fachdiskurses zu fehlen. Glauben Sie, dass eine buntere, an Formen reichere, womöglich expressiver zu nennende Architektur anschlussfähiger für breitere Gesellschaftsschichten ist?

Ja. Das meinte ich vorhin: dass die Architektur wieder lesbarer werden muss und damit verständlicher. Wir sollten uns Gedanken darüber machen, ob die äußere Erscheinung etwas mit der inneren Räumlichkeit zu tun hat. Dass wir beim Anblick eines Hauses verstehen, dass es sich dabei um ein Wohnhaus handelt, bei einem anderen aber um ein Bürohaus – selbst dann, wenn diese Typologien einander nähergekommen sind. Diese Verständlichkeit betrifft die Stadt als Ganze. Aber es geht auch um die Sinnlichkeit und die leibliche Zugänglichkeit von Architektur. Das sind beispielsweise die Fragen nach Materialien und ihren atmosphärischen Wirkungen.

Atmosphäre ist seit einigen Jahren ein doch recht vielbesprochenes Thema. Gernot Böhme hat sich 2006 dazu geäußert, Peter Zumthor hat seinen 2003 auf Schloß Wendlinghausen gehaltenen Vortrag ebenfalls 2006 publiziert. Dennoch konstatieren Sie mit Blick auf aktuelle Architektur, dass uns diese Gebäude nicht wirklich gerecht würden…


Flughäfen sind so ein Beispiel. Sie folgen in ihrer Materialität dem Diktum der Robustheit. Wir finden dort spiegelnde Granitböden, traurig glänzenden Edelstahl und viel Glas. Verbunden mit schlechtem Raumentwurf sind das Materialien, bei denen man das Gefühl hat, dass sie nicht für uns gemacht, nicht zum Anfassen bestimmt sind. Sie wurden nicht für die Berührung ausgewählt, sondern aus anderen, pragmatischen Gründen. Sinnliche Architektur sollte sich auch auf der Ebene der Materialien stärker an unserem Sensorium orientieren.

Peter Zumthor stellte seinem kleinen Büchlein 2006 den Ausspruch „Atmosphere is my style“ voran, den J.M.V. Turner 1844 an John Ruskin richtete. Turner, der britische Maler der Romantik, Ruskin, sein Landsmann und Freund, der als Kunsthistoriker mit „Die Steine von Venedig“ und mit „Die sieben Leuchter der Baukunst“ auch die Architekturgeschichte maßgeblich mit beeinflusst hat. Geht es Ihnen damit um eine Aktualisierung der Romantik?

Nein. Ich spreche bewusst vom Romantischen in der Architektur. Die Romantik ist eine Epoche, mit der man sich natürlich auch auseinandersetzen muss, wenn man etwas über das Romantische erfahren will. Das Romantische selber ist aber eher so etwas wie eine Geisteshaltung.

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Hochzeitsturm Plüderhausen, 2017–2019. (Bild: Stefan Müller)

Mit der Romantik als kunstgeschichtliche Epoche, die bis ins 19. Jahrhundert wirkte, verbinden wir die Gemälde von Caspar David Friedrich, Schinkel und anderen, Texte von E.T.A. Hoffmann oder Victor Hugo. All das hat das geprägt, was wir – womöglich umgangssprachlich – als romantisch bezeichnen. Was also steckt hinter Ihrer Auseinandersetzung mit dem Romantischen in der Architektur?

Die Romantik ist eine Epoche des Übergangs und Umbruchs: der Vitruvianismus ist überwunden, etwa ab 1800 entdeckt man die Gotik, noch ohne allzu viel über sie zu wissen. Karl-Friedrich Schinkel bringt das Interesse an ländlicher Architektur von seiner ersten Italienreise mit. Wenige Jahre später, 1813, malt er den gotischen „Dom am Wasser“ und 1824/25 den „Blick in Griechenlands Blüte“. Die normative Architekturtheorie wird von einer empfindsamen Architekturästhetik abgelöst. Empfindung und Einbildungskraft des Betrachters stehen jetzt im Mittelpunkt und verschiedene Charaktere der Gebäude können diese Stimmungen ausloten. Die Suche nach einer Poesie der Baukunst, nach einer die Sinne und den Sinn sättigenden Architektur, gerät in den Fokus. August Wilhelm Schlegel erhebt die Poesie zum Fundament aller Künste, also auch der Architektur. Schon vorher hatte Étienne-Louis Boullée über „magische Poesie“ gesprochen, zu der die Architektur im Stande sei. Die Poesie wird also zum Widerlager gegen Rationalität und Aufklärung. Das ist es, was sich hinter dem Romantischen verbirgt, es ist eine Poetisierung des Prosaischen. Und dafür steht auch die Losung, die Novalis herausgegeben hatte: „Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehen, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe, so romantisiere ich es.“

Novalis ist 1801 gestorben. Was ist daran relevant für unsere Zeit?

Sie fragen, was daran relevant sein könnte? Vielleicht vermissen auch wir verstärkt Sinn und Sinnlichkeit in Architektur und Stadt. Wenn wir den Kulturwissenschaften folgen wollten, lebten auch wir in einer Zeit des Wandels und des Umbruchs. Aleida Assmann hat vom Fall des Zeitregimes der Moderne gesprochen. Die Aufmerksamkeit für Modernisierungsprozesse, für Fortschritt und Zukunft, hat nachgelassen. Stattdessen treten bei Assmann neue Kategorien auf: Kultur, Identität, Gedächtnis. Die neue Aufmerksamkeit wendet sich also vermehrt der Vergangenheit zu. Die Strahlkraft der aufgeklärten Architektur, also die der architektonischen Moderne, hat schon lange nachgelassen. Globalisierungsprozesse vermehren die Aufmerksamkeit für das Lokale und die neue phänomenologische Annäherung an die Architektur – vor allem an den Raum der Architektur unter dem Stichwort Atmosphäre, Sie hatten ja Böhme und Zumthor bereits genannt – wird konsensfähig innerhalb der Disziplin.

Das Spannungsfeld zwischen lokalem Handeln und globalen Einflüssen ist ein hochaktuelles. Nicht nur die Architektur der Moderne hat ja einen gewissen Zauber eingebüßt, sondern auch das Versprechen, das mit der Globalisierung einherging. Wir schätzen die Vorzüge der Globalisierung gleichermaßen wie wir sie verdammen. Was also folgt aus einer Betrachtung des Romantischen für uns heute, was können wir darin finden?

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Haus im Burggarten, Bonn, 2008–20. (Foto: Stefan Müller)

Ich sehe darin Ähnlichkeiten. Auch wir halten Ausschau nach einer Poesie. Nach Sinnlichkeit und Sinn. Nach dem Romantischen in der Architektur. Für mich ist die Poesie eine Art Immunisierung, mit der wir den nivellierenden Prozessen von Globalisierung und Individualisierung etwas entgegensetzen können. Oder ihnen wenigstens nicht unwidersprochen das Feld überlassen. Das Romantische ist auch das Sprachfähig-Machen der Architektur, wenn es um Sinnlichkeit und Sinn geht. So führt diese theoretische Annäherung zu einem vertieften Nachdenken über die Poesie, zu der die Architektur schlussendlich im Stande sein sollte. Das Fehlen dieser Poesie ist vielleicht das größte Manko in unserer gegenwärtigen Architektur und in unseren Städten, das, wonach wir uns am meisten sehnen.

Auch unsere Zeit von einem steten Gegeneinander geprägt. Diskurse verengen sich auf den bloßen Hinweis auf Meinungen, man teilt sich freiwillig in mit Hashtags versehenen Teams ein, kategorisiert sich in Lagern. Werden Sie mit dieser Haltung der Sinnsuche verstanden oder missverstanden?

Das weiß ich nicht. Ich nehme die derzeitige Situation wenigstens weniger polarisiert wahr, als ich das aus den 1980er Jahren kenne. Es scheint mit ein Nebeneinander vieler Meinungen und Positionen zu sein, bei dem man hier Unterschiede und dort Ähnlichkeiten wahrnimmt. Genauer wird man das wahrscheinlich erst in ein paar Jahren analysieren können. Früher brauchte man ein Konzept, heute eine Geschichte. Alle fordern immer wieder ein Narrativ – egal um was es geht. Offengestanden geht mir diese stete Betonung der Notwendigkeit einer solchen Geschichte ziemlich auf den Keks, aber ich sehe darin die Suche nach einer Sinnstiftung. Nur eine Gestaltung interessiert heute keinen mehr, es muss immer auch das Dahinter beleuchtet werden. Nicht nur gute Details, gute Fügungen und ein guter Städtebau: Wir brauchen auch noch eine Bedeutung dahinter. Ich deute dieses Abheben auf das Narrativ als eine solche Suche nach Sinn und als Betonung der Wichtigkeit einer wirklichen Bedeutung.