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Wien. (Bild: pxhere)
Rund 50 Jahre nach seiner ersten Verbreitung befindet sich das Leitbild der kompakten, dichten und üblicherweise mit Label „europäisch“ versehenen Stadt in der wohl tiefsten Krise überhaupt. Was sich seit Jahren, mancherorts seit zwei, drei Jahrzehnten immer deutlicher abzeichnete, hat die Covid-19-Pandemie nunmehr besonders deutlich gemacht: Für viele ist die kompakte Stadt unbezahlbar geworden. Wie ein Blick in die Vergangenheit zeigt, ist diese Fehlentwicklung einer politischen Umcodierung geschuldet.


„Städtebau.Positionen“ (16) | Die Serie versteht sich als öffnender Beitrag zum Diskurs über Stadt, als Panorama der städtischen Vielfalt und Themen, mit denen umzugehen wir herausgefordert sind.



Städte wie beispielsweise die sechs größten Metropolen Deutschlands – also Berlin, Hamburg, Köln, München, Frankfurt am Main und Stuttgart – sind für viele Mieter*innen und Wohneigentumsuchende in den letzten Jahren kaum bis überhaupt nicht mehr erschwinglich geworden. Für gering oder durchschnittlich Verdienende sind Wohnungen oder gar Häuser in zentralen Lagen dieser Städte, die beispielsweise einer vierköpfigen Familie mit zwei arbeitenden Elternteilen nicht nur ein „Wohnen für das Existenzminimum“, sondern darüberhinaus auch noch zwei einigermaßen komfortable Homeoffice-Plätze bieten, finanziell in weite Ferne gerückt. Wie der Spiegel in seinem viel beachteten Aufmacher vom 15. Mai 2021 berichtet, sind seit 2012 die Hauspreise förmlich explodiert: in Frankfurt am Main um 61 Prozent, in Hamburg um 73 Prozent, in Stuttgart um 77 Prozent, in München um 89 Prozent, in Köln um 91 Prozent, und in Berlin gar um 144 Prozent. Alleine im ersten Coronajahr 2020 haben sich deutschlandweit die Häuser um zehn und die Wohnungen um elf Prozent verteuert. Der Kaufpreisentwicklung in diesen Städten entspricht auch die Mietpreisentwicklung: In Stuttgart, der aktuell teuersten Großstadt Deutschlands, liegt die Nettokaltmiete bei 10,38 Euro pro Quadratmeter und damit 46 Prozent über dem deutschen Durchschnitt.

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Stuttgart. (Bild: pxhere)

Kurzum: In einer deutschen Großstadt – von London, Paris oder Zürich ganz zu schweigen – ist ohne Schenkung oder Erbschaft kaum noch Eigentum zu erwerben, und ohne sehr hohes Einkommen ist auch kaum eine attraktivere Mietwohnung zu finden. Man muss es deutlich aussprechen: Das Leitbild der kompakten, dichten Stadt, welches sich ab den letzten zwei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts unter zunehmend sich neoliberalisierenden Bedingungen europaweit etabliert hat und 2007 mit der „Leipzig-Charta zur nachhaltigen europäischen Stadt“ auch noch zum offiziellen Ziel der Europäischen Union wurde – dieses Leitbild ist unter sozialen Gesichtspunkten mindestens so gescheitert wie das vorangegangene Leitbild einer Stadt der Moderne, deren vier CIAM-Funktionszonen Wohnen, Arbeit, Erholung und Verkehr sich in den allermeisten westlichen Fällen einem keyensianisch inspirierten Wohlfahrtsstaat verdankte, welcher auch die Wohnraumversorgung mittels Planstädte in die Hand nahm.

Kritik von links

Dabei hatte das Projekt der kompakten, dichten Stadt eigentlich ganz gut begonnen, und zwar als ebenso sozialistisch-kommunistisch wie denkmalpflegerisch inspirierter Versuch, Altstädte vor dem kapitalistischen Zugriff – also Abriss – zu bewahren. Man denke etwa an den undogmatischen Linken Henri Lefevbre, der 1958 aus der Kommunistischen Partei Frankreichs (PCF) geschmissen wurde (weil er sich im Zuge des ungarischen Volksaufstandes gegen die Sowjetunion positionierte) und sich später, mit der Publikation „Das Recht auf Stadt“ (1968), vehement gegen moderne Neubauviertel wandte: „Die gesamte wahrnehmbare (lesbare) städtische Realität ist verschwunden: Straßen, Plätze, Monumente, Begegnungsräume. Selbst das Café (Bistro) provozierte den Groll der ensemblistes, der Anhänger von Wohnkomplexen, ihre Vorliebe für Askese, ihre Reduktion des Wohnens auf das Wohngebiet.“ (1)

Wenngleich Lefebvre vor einer simplen „Rückkehr in die traditionellen Städte“ (2) warnt, so plädiert er doch für ein „Recht auf Stadt“ im Sinne eines Rechts „auf das städtische Leben’ in verwandelter, erneuerter Form“ (3) – also für ein Leben jenseits eines feinsäuberlich zonierten CIAM-Urbanismus, wie er etwa in der Charta von Athen festgelegt wurde: „Das Recht auf Stadt legitimiert die Weigerung, sich durch eine diskriminierende, segregierende Organisation aus der städtischen Wirklichkeit verdrängen zu lassen.“ (4) Man denke auch an das von Pier Luigi Cervellati und anderen um 1970 herum betriebene „Modell Bologna“, mit dem in der damals von der Kommunistischen Partei Italiens (PCI) regierten Stadt eine revolutionäre, weit über die Grenzen Italiens diskutierte urbanistische Umorientierung betrieben wurde. Das Bologneser Reforminteresse verschob sich, wie Harald Bodenschatz schreibt, „von den Stadterweiterungsgebieten zu den bereits bebauten Gebieten“. (5)

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Bologna (Bild: pxhere)

Insbesondere die Altstadt, deren bauliche und soziale Struktur erhalten werden soll, wird zum Schwerpunkt der Planung: „Zielsetzung ist jetzt nicht mehr nur der Schutz einzelner Baudenkmäler, sondern der Schutz des historischen Zentrums als Gesamtdenkmal.“ (6) Lange vor Cervellati und Lefebvre hatte in Deutschland bereits Alexander Mitscherlich mit seinem Buch „Die Unwirtlichkeit unserer Städte“ (1965) eine dezidiert linke Kritik an der Zerstörung gewachsener Strukturen in der Stadtentwicklung der Nachkriegszeit geübt, die man als hübschen Traum von einer Revolution lesen kann, bei der städtebaulich alles beim Alten bleibt: „Es ist wohl von niemandem ernstlich bestritten, dass die Misere des deutschen Wiederaufbaus eng mit der Zufälligkeit der Besitzverteilung, den spekulativen Bodenpreisen und dem ausgebliebenen politischen Versuch zu räumlicher Neuordnung der Stadtareale zusammenhängt.“ (7) Vor diesem Hintergrund ist es für Mitscherlich geradezu eine „Notwendigkeit, zu einer Neuregelung der Bodenbesitzverhältnisse in den Städten zu kommen“. (8)

Übernahme von rechts

In den kommenden Jahrzehnten sollte jedoch deutlich werden, dass ein solchermaßen von links her argumentierender städtebaulicher Bewahrungsgestus deutlich einfacher zu haben ist: und zwar, wenn er von konservativ bis rechts kommt – und ohne Enteignungsdiskussionen und damit einhergehende Umsturzängste der Mittel- und Oberschichten einher geht. Diese hatten – wenig überraschend – auch Mitte der 1970er Jahre bereits das Bologna-Modell zu Fall gebracht. Im Grunde dürfte – zumindest in Deutschland – schon ein Jahr vor Mitscherlichs „Die Unwirtlichkeit unserer Städte“, nämlich mit Wolf Jobst Siedler und seinem Buch „Die gemordete Stadt“ (1964), klar geworden sein, dass die städtebauliche Antimoderne, sofern sie nicht ans Eingemachte der Eigentumsstrukturen rührte, von Anfang an der politischen Reaktion in die Hände spielte. Denn kurz nach seiner städtebaulichen Verklärung der „guten alten Zeit“ betrieb Siedler als Geschäftsführer der Ullstein GmbH und damit Verleger von Albert Speers Bestsellern „Erinnerungen“ (1969) und „Spandauer Tagebücher“ (1975) die geschichtsklitternde Umdeutung eines Kriegsverbrechers zu einem „Naziminister, der nichts wusste“. (9) Speer sollte es ihm mit einer Originalskizze Hitlers danken.

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Berlin. (Bild: pixabay)

Auch der luxemburgische Architekt Léon Krier muss in diesem Zusammenhang erwähnt werden. 1969 gehörte er gemeinsam mit dem Stadtsoziologen René Schoonbrodt, dem Juristen Philippe de Keyser, dem Priester und Theologen Jacques Van der Biest und dem Architekten Maurice Culot zu den Gründern des Atelier de Recherche et d’Action Urbaines (ARAU), das, beeinflusst von Lefebvres „Recht auf Stadt“, sich mit antikapitalistischen Argumenten gegen die Brüsseler Abrissorgien der damaligen Zeit wandte. 1978, in seinem Text „The Reconstruction of the City“, äußert sich Krier noch kritisch über die antiurbane nationalsozialistische Klein- und Vorstadtplanung, wie sie etwa in Gottfried Feders 1939 erschienem Buch „Die neue Stadt“ dargelegt wurde. (10) Krier betrachtet derlei vor allem als fatale Folge einer außer Kontrolle geratenen Industrialisierung: „Fascism is after all only an extreme form of capitalism.” (11) Wenige Jahre später, in seinem Aufsatz „Architektur der Sehnsucht“, der 1985 in Kriers Prachtband „Albert Speer. Architecture 1932–1942“ und 1987 in deutscher Übersetzung in der bauwelt erschien, nennt er die Feder’schen Kleinstädte nun plötzlich ein „geniales Programm“ (12) – und richtet später gar die eigenen, im Auftrag von Prinz Charles erfolgten Planungen für die englische Kleinstadt Poundbury an Feders Überlegungen aus.

Es kann vor diesem Hintergrund nur wenig verwundern, dass sich Krier in den letzten Jahren nicht nur zum Vorzeigearchitekten rechtsoffener Rekonstruktionsmilieus in Dresden oder Frankfurt am Main entwickelt hat, nicht nur seine publizistische Heimat in nationalkonservativen Medien wie „Cato“ gefunden hat, sondern dass sich die AfD-Bundestagsfraktion in ihrem „Nationalen Aktionsplan kulturelle Identität“ sogar explizit auf Krier mit folgenden Worten bezieht: „Die erfolgreichen Rekonstruktionsprojekte in Dresden, Frankfurt am Main oder Berlin zeigen, dass es auch mit Blick auf die architektonische Gestalt unserer Städte ein Grundbedürfnis nach kultureller Identität gibt, die etliche Bauten der ‚brutalistischen Moderne‘, die – wie es der Architekt Léon Krier ausdrückte – durch ‚menschenverachtende Hässlichkeit‘ und ‚Trostlosigkeit‘ gekennzeichnet sind (…).“ (13) Aus dem „Recht auf Stadt“ scheinen in der Tat „Rechte Räume“ geworden zu sein, wie Isabelle Doucet, Janina Gosseye und Anne Kockelkorn kürzlich suggerierten. (14)

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Wien. (Bild: pxhere)

Wie geht gerecht?

Wie könnte nun in den luxussanierten, High-end-gentrifizierten Trümmern eines gut gemeinten „Rechtes auf Stadt“, das unter neoliberalen Bedingungen nur schlecht als recht – als ziemlich „rechte Räume“ – verwirklicht wurde, endlich die gerechte Stadt entstehen? Zumal die kommunistische Weltrevolution bis auf Weiteres eher unwahrscheinlich geworden ist? Zumal auch Enteignungen von Wohnungskonzernen und selbst Mietpreisbremsen auch weiterhin an Gerichten scheitern oder leicht ausgehebelt werden dürften? Und zumal sich jenseits der Grenzen europäischer Städte eine ganz neue Wetterfront zusammenbraut, nämlich der von Titus Gebel und anderen beworbene Steueroasen-Weltmarkt der „Free Private Cities“?

Denn es gehört zu den größten urbanistischen Herausforderungen unserer Zeit, dass die architekturtheoretisch ausformulierteste Alternative zum Rollback von traditioneller Stadt, Rekonstruktion und Vergangenheitsseligkeit ihrerseits eine höchstproblematische Position darstellt: der rechtslibertär konnotierte Parametrizismus eines Patrik Schumacher, der – wie das Beispiel Próspera auf der zu Honduras gehörenden Karibik-Insel Roatán zeigt – via Gebel und Zaha Hadid Architects längst mit steuerfluchtbereiten internationalen Kapitalgeber:innen fraternisiert. (15) Schumacher traut dem Staat so gut wie nichts und dem Markt so gut wie alles zu.

Doch die gerechte Stadt – sie gibt es nur jenseits des Marktes, wie das Beispiel der einzigen europäischen Metropole zeigt, in der hundertausende von Menschen Zugang zu bezahlbarem Wohnraum haben: Wien. Ganz ohne toxische Enteignungsdiskussionen sorgt dort die 1,9-Millionen-Stadt mit ihren etwa 220.000 Gemeindewohnungen, die über das öffentlich-rechtliche Unternehmen Wiener Wohnen (der größten kommunalen Hausverwaltung Europas) verwaltet, saniert und bewirtschaftet werden, für gedeckelte Mieten in Höhe von 5,80 Euro pro Quadratmeter (also ungefähr halb so viel wie aktuell Stuttgart) – in teilweise besten Lagen und oftmals herausragender Architektur. 500.000 Menschen (also mehr als ein Viertel aller Einwohner Wiens) wohnen in einer dieser preisgünstigen Gemeindewohnungen. Keine andere Stadt der Welt besitzt so viele Wohneinheiten. Diese kritische Masse wirkt sich auf den gesamten Mietmarkt aus und drückt die Preise nach unten. Natürlich ist das Beispiel der Wiener Gemeindebauten, die auf eine hundertjährige sozialdemokratische Tradition zurück gehen, in der aktuellen Situation nur schwer auf andere Städte zu übertragen, in denen in den letzten neoliberalen Jahrzehnten öffentlicher Wohnungsbestand privatisiert worden ist. Aber mit dem Aufbau kommunaler Bodenfonds, der Stärkung städtischer Vorkaufsrechte und der Besteuerung leistungsloser Gewinne auf dem Bodenmarkt ließe sich einiges wieder aufholen. In der großmaßstäblichen Wiedereinführung des sozialen Wohnungsbaus – und nicht in naiven Architektur-Diskussionen, die mit dem Begriff „Schönheit“ zu hantieren versuchen – dürfte wohl mittel- bis langfristig die Lösung der fundamentalen Probleme des Leitbildes der kompakten, dichten Stadt liegen.


(1) Henri Lefebvre: Das Recht auf Stadt, Hamburg: Edition Nautilus, 2016 [1968], S. 51.
(2) Lefebvre, Das Recht auf Stadt, a. a. O., S. 166.
(3) Ebd.
(4) Lefebvre, Das Recht auf Stadt, a. a. O, S. 218.
(5) Harald Bodenschatz: Städtische Bodenreform in Italien. Die Auseinandersetzung um das Bodenrecht und die Bologneser Kommunalplanung, Frankfurt am Main: Campus, 1979, S. 162f.
(6) Bodenschatz, Städtische Bodenreform in Italien, a. a. O., S. 173f.
(7) Alexander Mitscherlich: Die Unwirtlichkeit unserer Städte. Anstiftung zum Unfrieden, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1965, S. 19f.
(8) Mitscherlich, Die Unwirtlichkeit unserer Städte, a. a. O., S. 20.
(9) Christian Gampert: „Albert Speer und seine Helfer. Geschichtsfälschung für die Mär vom unpolitischen Technokraten“, in: Deutschlandfunk, 30. April 2017, online >>>
S. auch Magnus Brechtken: Albert Speer. Eine deutsche Karriere, Berlin: Siedler, 2017.
(10) Gottfried Feder: Die neue Stadt. Versuch der Begründung einer neuen Stadtplanungskunst aus der sozialen Struktur der Bevölkerung, Berlin: Verlag von Julius Springer, 1939.
(11) Archives d’Architecture Moderne (Hrsg.): Rational Architecture – Architecture rationelle. The Reconstruction of the European City, Brüssel 1978.
(12) Léon Krier: „Eine Architektur der Sehnsucht“ (1985), in: Bauwelt 28-29: „Die große Speerfeier des Léon Krier“, 1987, S. 1036.
(13) AfD-Bundestagsfraktion: „Antrag Nationaler Aktionsplan kulturelle Identität“, 21. April 2021, online >>>
(14) Isabelle Doucet, Janina Gosseye und Anne Kockelkorn: „From Le Droit à la Ville to ‚Rechte Räume‘: Legacies and legends of the Movement for the Reconstruction of the European City”, Konferenzbeitrag, November 2019; online >>>
(15) Stephan Trüby: „Das Faustrecht der Freiheit. Anarchokapitalistische Fantasien in der zeitgenössischen Architektur“, in: Geschichte der Gegenwart, 28. März 2021, online >>>